Samstag, April 04, 2020


Bild: Hugo Keller
Lourmarin (F), 28.03.2010
"Wenn es etwas gibt, das man immer ersehnen und manchmal auch erhalten kann, so ist es die liebevolle Verbundenheit mit einem Menschen. Das wussten sie jetzt."
Ebd., 177
"Der Arzt wusste nicht, ob Tarrou schliesslich den Frieden gefunden hatte, aber er glaubte zu wissen, wenigstens in diesem Augenblick, dass für ihn selbst ein Friede niemals mehr möglich sein werde, so wie es für die Mutter, die ihren Sohn verloren hat, oder für den Mann, der seinen Freund begräbt, keinen Waffenstillstand gibt."
Ebd., 171
"'[...] Mit der Zeit habe ich [Tarrou] einfach erkannt, dass selbst diejenigen, die besser sind als andere, es heute nicht mehr vermeiden können, zu töten oder töten zu lassen, weil das in der Logik liegt, in der sie leben, und dass wir in dieser Welt keine Bewegung machen können, ohne dabei Gefahr zu laufen, den Tod zu bringen. Ja, [...] ich habe gelernt, dass wir alle in der Pest sind, und ich habe den Frieden verloren. Ich suche ihn noch heute, indem ich probiere, alle zu verstehen und keines Menschen Todfeind zu sein. Ich weiss nur, dass man alles Nötige machen muss, um nicht mehr an der Pest zu kränken, und dass nur darin eine Hoffnung auf Frieden liegt oder doch wenigstens auf einen guten Tod. Das ist es, was die Menschen erleichtern kann und ihnen, wenn es sie auch nicht rettet, doch möglichst wenig Böses zufügt und manchmal sogar ein bisschen wohltut. Und darum habe ich beschlossen, alles abzulehnen, was von nah oder fern, aus guten oder schlechten Gründen, tötet oder rechtfertigt, dass getötet wird.
Deshalb kann diese Epidemie mich auch nichts lehren, ausser, dass ich sie an Ihrer Seite bekämpfen muss. Ich habe die unumstössliche Gewissheit (ja, Rieux, ich weiss alles vom Leben, Sie sehen es wohl), dass jeder die Pest in sich trägt, weil kein Mensch, nein, kein Mensch auf der ganzen Welt frei davon ist. Und dass man sich ohne Unterlass überwachen muss, um nicht in einem Augenblick der Zerstreutheit dazuzukommen, einem anderen ins Gesicht zu atmen und ihm die Krankheit anzuhängen. Was naturgegeben ist, das sind die Mikroben. Alles übrige, die Gesundheit, die Rechtlichkeit, die Reinheit, wenn Sie wollen, ist eine Folge des Willens, und zwar eines Willens, der nie erlahmen darf. Der ehrliche Mensch, der fast niemand ansteckt, ist jener, der sich am wenigsten ablenken lässt. Und wieviel Willen und Anspannung sind nötig, um nie zerstreut zu sein! Ja, Rieux, es ist sehr anstrengend, pestkrank zu sein. Aber es ist noch anstrengender, es nicht sein zu wollen. Deshalb sind alle Leute so müde, weil heute alle Leute ein wenig pestkrank sind. Aber deshalb erleben einige wenige, die nicht mehr krank sein wollen, eine so übergrosse Erschöpfung, von der sie nichts mehr befreien wird als der Tod.'"
Ebd., 149-150
Aber Cottard lächelte nicht. Er wollte wissen, ob man annehmen müsse, die Pest habe in der Stadt nichts geändert und alles fange wieder an wie früher, das heisst, als sei nichts geschehen. Tarrou fand, die Pest habe die Stadt verändert und nicht verändert; er meinte, dass es natürlich der grösste Wunsch unserer Mitbürger sei und bleiben werde, so zu tun, als ob nichts verändert wäre, und dass infolgedessen in gewissem Sinne nichts verändert sei; dass man aber in einem anderen Sinne nicht alles vergessen könne, auch mit dem nötigen Willen nicht, und dass die Pest zumindest in den Herzen Spuren hinterlassen werde. Der kleine Rentner erklärte rund heraus, das Herz interessiere ihn nicht, das Herz sei sogar sein letzter Kummer. Was ihn interessierte, war zu wissen, ob die Organisation an sich nicht verwandelt werde, ob zum Beispiel alle Dienststellen wie früher arbeiten würden."
Ebd., 164
"Alle waren sich darin einig, dass die Annehmlichkeiten des früheren Lebens kaum mit einem Schlage zurückkehren würden und dass es leichter sei sie zu zerstören, als wieder aufzubauen. Jeder dachte nur, dass die Ernährungslage etwas verbessert werden könnte und man auf diese Weise von der dringendsten Sorge befreit würde. Aber in Wirklichkeit entstand hinter diesen harmlosen Bemerkungen urplötzlich eine zügellose, wahnwitzige Hoffnung, die so übermächtig war, dass unsere Mitbürger sich ihrer manchmal bewusst wurden und dann eilig versicherten, die Befreiung sei natürlich nicht von heute auf morgen zu erwarten."
Ebd., 158
"Jeder, den Tarrou betrachtete, blickte ins Leere, und alle schienen unter einer ganz allgemeinen Trennung von dem, was ihr Leben ausmachte, zu leiden. Und da sie nicht immer an den Tod denken konnten, dachten sie an nichts. Sie waren in den Ferien. 'Aber das Schlimmste ist', schrieb Tarrou, "dass sie vergessen sind und es wissen. Ihre Bekannten haben sie vergessen, weil sie an anderes zu denken haben, was sehr begreiflich ist, Diejenigen, die sie lieben, haben sie auch vergessen, weil sie sich Gängen und Plänen erschöpfen, um sie frei zu bekommen. Sie denken so ausschliesslich and die geplante Befreiung, dass sie nicht mehr an die denken, die sie befreien wollen. Auch das ist natürlich. Und schliesslich merkt man, dass niemand fähig ist, wirklich an jemanden zu denken, auch im schlimmsten Unglück nicht. Denn wirklich an jemanden denken, heisst, Minute auf Minute an ihn denken, ohne sich ablenken zu lassen, weder von Haushaltssorgen, noch von der voreibsurrenden Fliege, noch vom Jucken. Aber es gibt immer Fliegen und Juckreize. Darum ist das Leben schwer zu leben. Und die hier wissen es wohl."'
Ebd., 142
"Die Spekulation hatte sich eingemischt, und lebenswichtige Nahrungsmittel, die auf dem gewöhnlichen Markt fehlten, wurden zu wahnwitzigen Preisen angeboten. Die armen Leute befanden sich deshalb in einer sehr beschwerlichen Lage., während es den Reichen ungefähr an nichts mangelte. Durch das natürliche Spiel der Selbstsucht verschärfte die Pest in den Herzen der Menschen das Gefühl der Ungerechtigkeit, anstatt durch ihre tatsächlich unparteiische Herrschaft die Gleichheit unserer Mitbürger zu verstärken. Selbstverständlich verblieb die untadelige Gleichheit vor dem Tod, aber davon wollte niemand etwas wissen."
Ebd., 140
"'Paneloux hat recht', sagte Tarrou. 'Wenn der Unschuld die Augen ausgestochen werden, muss ein Christ den Glauben verlieren oder darin einwilligen, dass auch ihm die Augen ausgestochen werden. Paneloux will den Glauben nicht verlieren, er wird bis ans Ende gehen. Das ist es, was er sagen wollte.'"
Ebd., 135
"'Ich verstehe', murmelte Paneloux. 'Es ist empörend, weil es unser Mass übersteigt. Aber vielleicht sollen wir lieben, was wir nicht begreifen können.'
Rieux richtete sich mit einem Schlag auf. Mit der ganzen Kraft und Leidenschaft, deren er fähig war, schaute er Paneloux an und schüttelte den Kopf.
'Nein, Pater', sagte er. 'Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.'"
ALBERT CAMUS: Die Pest. 674.-703. Tausend. Hamburg : Rowohlt, Januar 1974,128-129

Freitag, April 03, 2020






Dann haben Sie auch nie Tagebuch geführt? 
Ich habe es immer wieder versucht, aber ich hatte nicht das geringste Talent dazu. Es ging mir damit wie mit dem Fotografieren. Wenn ich mit einer Kamera in der Hand herumgegangen bin, wurde die Welt viereckig. Das heisst, ich suchte Motive. Wenn ich anfing, Tagebuch zu führen, begann ich, fürs Tagebuch zu leben, mir Leute oder Beizen auszusuchen in Hinblick darauf, ob sie interessant genug wären für meine Aufzeichnungen. Das Tagebuch versaute mir das Leben.
Sie sind ein Autor, den man nach wenigen Sätzen erkennt. Ist Ihnen Ihr Stil einfach zugefallen, oder haben Sie ihn bewusst geformt? 
So etwas wie einen "Stilwillen" habe ich nie gehabt. Mein Tonfall hat vermutlich viel mit meiner näselnden Aussprache zu tun. Als Kind wurde ich deshalb oft verspottet. Aber dann gab es ein wichtiges Ereignis in meinem Leben: Mein Hals-, Nasen- und Ohrenarzt hat mich untersucht und gesagt: Die Nasengänge sind zu schmal. Die könnte man erweitern. Ich war einverstanden, ich hatte keine Angst vor der Operation. Ich freute mich und dachte: Jetzt bin ich dann so wie die anderen. Aber drei Tage vor dem Termin habe ich zu meiner Mutter gesagt: «Ich lasse das nicht machen.» Ich bin zum Arzt gegangen und habe ihm gesagt: «Ich möchte mich nicht operieren lassen. Das ist meine Stimme, und die möchte ich behalten.» Da hat er mich angeschaut und gesagt: "Du bist ein gescheiter Bub."
Sie sind ein erratischer Block in der Schweizer Literatur; zugleich werden Sie von jungen Kollegen verehrt. Schmeichelt Ihnen das? 
Ich weiss nicht, ob das stimmt. Ich hoffe nicht. Es wäre ein Missverständnis. Wenn ich nicht mehr bin, und das wird nächstens sein, werden meine Sachen sehr schnell in Vergessenheit geraten. Ich werde nicht in die Literaturgeschichte eingehen.
Aus: PETER BICHSEL: "Ich kann gut dasitzen und nichts tun" / Interviw: Manfred Papst, NZZ am Sonntag, 28.03.2020
"Denn nichts ist weniger augenfällig als eine Seuche, und die grossen Schicksalsschläge sind schon ihrer Dauer wegen eintönig. In der Erinnerung erscheinen die fürchterlichen Tage der Pest denen, die sie erlebten, nicht als grosse, endlos grausame Flammen, sondern viel eher als endlose Tretmühle, die alles zermalmte."
Ebd., 106
"Wenn er [Rieux] an einen allmächtigen Gott glaubte, würde er aufhören, die Menschen zu heilen, und diese Sorge ihm überlassen. Aber kein Mensch auf der ganzen Welt, nein, nicht einmal Paneloux, glaube an einen solchen Gott, obwohl er daran zu glauben glaube, denn es gebe sich ihm ja niemand völlig hin, und er, Rieux, glaube, wenigstens in dieser Beziehung auf dem Wege der Wahrheit zu sein, indem er gegen die Schöpfung, so wie sie sei, ankämpfe."
Ebd., 76
"Als Tarrou sich über sein eingesperrtes Leben wunderte, hatte er [der alte Asthmatiker] ihm im Groben erklärt, dass nach der Religion das Leben eines Menschen in der ersten Hälfte ein Aufstieg und in der zweiten ein Abstieg sei, dass während des Abstiegs die Tage nicht mehr dem Menschen gehörten und man sie ihm jeden Augenblick entreissen könne, dass er also nichts damit anfangen könne und es infolgedessen das Beste sei, nichts damit anzufangen."
Ebd., 70-71
"So brachte die Pest unseren Mitbürgern als erstes die Verbannung. [...] Denn das war wirklich das Gefühl der Verbannung, jene Leere, die wir unablässig in uns trugen, diese besondere innere Unruhe, der unvernünftige Wunsch, in die Vergangenheit zurückzukehren oder im Gegenteil die Zeit vorwärts zu treiben, diese brennenden Pfeile der Erinnerung."
Ebd.,43
"Unsere Mitbürger waren nicht schuldiger als andere, sie vergassen nur die Bescheidenheit und dachten, dass ihnen noch alle Möglichkeiten offenblieben, was aber voraussetzt, dass Heimsuchungen unmöglich sind. Sie schlossen auch weiterhin Geschäfte ab, bereiteten Reisen vor und hatten eine Meinung. Wie hätten sie da an die Pest denken sollen, die der Zukunft, dem Reisen und dem Gedankenaustausch ein Ende macht? Sie glaubten sich frei, und keiner wird je frei sein, solange es Geisseln der Menschheit gibt."
ALBERT CAMUS: Die Pest. 674.-703. Tausend. Hamburg : Rowohlt, Januar 1974, 25