Samstag, August 29, 2020

"Und als ich über diese unheimliche Zufälligkeit weiter nachdachte, verwunderte ich mich aufs neue, wie es überhaupt möglich gewesen sei, daß ich, noch in den Kinderschuhen stehend, meinen unberatenen Willen so leicht habe durchsetzen können in einer das ganze lange Leben bestimmenden Sache. Ich war noch nicht über die Jugendidee hinaus, daß eine solche Selbstbestimmung im zartesten Alter das Rühmlichste sei, was es geben könne; allein es begann mir jetzt doch unerwartet die Einsicht aufzugehen, das Ringen mit einem streng bedächtigen Vater, der über die Schwelle des Hauses hinauszublicken vermag, sei ein besseres Stahlbad für die jugendliche Werdekraft als unbewehrte Mutterliebe. Zum ersten Male meines Erinnerns ward ich dieses Gefühles der Vaterlosigkeit deutlicher inne, und es wallte mir augenblicklich heiß bis unter die Haarwurzeln hinauf, als ich mir rasch vergegenwärtigte, wie ich durch das Leben des Vaters der frühen Freiheit beraubt, vielleicht gewaltsamer Zucht unterworfen, aber dafür auch auf gesicherte Wege geführt worden wäre. Indem ich bei dieser Vorstellung von Sehnsucht und Widerspruch, von einem mir unbekannten, aber süßen Gefühle des Gehorsams und trotziger Freiheitslust gleichzeitig erglühte, suchte ich die mir fast gänzlich vermischte Gestalt heraufzuführen, vermochte es aber im Wogen der Gedanken zuletzt nur durch das Auge der Mutter, wie sie den Abgeschiedenen im Traume gesehen.

Im Verlaufe der Zeit hatte sie nämlich wiederholt, aber immer nur nach jahrelangen Unterbrechungen, vom Vater geträumt, vielleicht zwei- oder dreimal, gleichsam zum Wahrzeichen, wie selten solche geheimnisvolle Lichtblicke tiefsten Glückes uns vergönnt sind. Jedesmal aber hatte sie am Morgen das Begebnis, das nach langem Ausbleiben so unerwartet gekommen, mit dankbarer Freude erzählt und die Art und Weise der Erscheinung beschrieben. 

So war es ihr einst im Schlafe, als ergehe sie sich an einem Sonntage mit dem verstorbenen Gatten im Freien, wie ehemals; aber sie fand ihn doch nicht sich zur Seite, sondern sah ihn plötzlich aus der Ferne herkommen auf einer unabsehbaren Feldstraße. Er war sonntäglich fein gekleidet, trug aber ein schweres Felleisen auf dem Rücken; in der Nähe angelangt, stand er still, nahm den Hut vom Kopfe und wischte den Schweiß von der Stirne; dann winkte er liebevoll gegen die Mutter und sagte mit wohltönender Stimme: »Es ist weit, weit zu gehen!« worauf er an seinem Stabe rüstig weiter wanderte, bis er ihren Augen entschwand. Dieses Gesicht, welches ihr statt eines Ausruhenden einen mit belastetem Rücken in unendliche Fernen Dahinziehenden gezeigt, hatte die Mutter bei näherem Nachdenken traurig gemacht, da sie ohne Aberglauben oder Traumdeuterei doch die Empfindung oder Vorstellung von einer großen Mühsal erlitt, in welcher sich der Abgeschiedene bewege.

Mir hingegen erweckte jetzt das Gedenken dieses unverdrossenen Wanderns des freundlichen Geistes durch die unbekannte Ewigkeit eher das vorbildliche Anschauen eines nicht zu brechenden Lebensmutes, des rastlosen Verfolgens eines Zieles. Ich sah den Mann selbst dahinschreiten und mir zuwinken, und als das Bild allmählich sich von der Tafel der Erinnerung löste und verschwand, sagte ich mir entschlossen: Was kann es helfen! Du darfst nicht länger säumen und mußt die fehlende Kenntnis nachholen!"

GOTTFRIED KELLER: Der grüne Heinrich. Zürich : Buchclub Ex Libris, 1976, 577-578

Samstag, August 01, 2020

"Der Fortschritt hilft der Menschheit, aber er schadet ihr auch, ich fühle mich zu den Bemühungen der Menschen, gleichzeitig vorwärts und rückwärts gehen zu wollen, hingezogen."
W. EUGENE SMITH, zit. nach: W. Eugene Smith / Sam Stephenson. Deutsche Erstausgabe. Berlin : Phaidon Verlag, 2001. (Phaidon 55), Seite 44