Samstag, Oktober 14, 2023

 "Mein Großvater pflegte zu sagen: 'Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen - schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.'" 
FRANZ KAFKA: Das nächste Dorf. 
"In einer von Franz Kafkas Parabeln sagt der Grossvater, er könne kaum begreifen, warum ein junger Mensch sich entschliesse, ins nächste Dorf zu reiten, obwohl doch die Lebenszeit dazu bei weitem nicht ausreiche. Was meint er damit?"
"Kafkas Werk ist von einer solch atemberaubenden Gegenwärtigkeit, dass mir beim Lesen regelrecht schwindelig wird. Die Reinheit des Augenblicks ist bei ihm durch nichts gestört. Alle anderen sind dagegen geschwätzig. Der Grossvater ist die Inkarnation Kafkas selbst: Auch in dieser Parabel geht es um eine vollständige Wahrnehmung des Augenblicks, in der es keine Vergangenheit und Zukunft gibt, um lauter Unendlichkeiten, die sich bei der Betrachtung jedes Dings, das auf dem Weg ins nächste Dorf liegt, offenbaren."
MANFRED OSTEN ; [im Gespräch mit] Dirk Gieselmann: "Worum sorgen wir uns? Dass wir nicht mehr zum Leben kommen!" In: Das Magazin. 2023, N° 41, 22-23

Donnerstag, Oktober 05, 2023

 "Der Mensch, der seine Wurzeln kappt, der sie verliert und vor der Vergangenheit flieht, findet in dieser Welt keine Zuflucht mehr."
JÓN KALMAN STEFÁNSSON: Dein Fortsein ist Finsternis : Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. München : Piper, © 2022, 368
"[...] Wir haben nur uns, und das Leben ist zu kurz und dornig, um seine Liebsten zu verstossen. [...], die  Stärke eines Menschen bemisst sich danach, ob er in der Lage ist, sich selbst zu helfen, oder nicht. [...] Der wichtigste Kampf eines Menschen ist der, den er gegen sich selbst führt. Ich muss meinen inneren Saustall aufräumen."
Ebd., 458
"Aber wer sich nie anderen anvertraut, wird nach und nach zu einem Schneckenhaus. Der kriecht, in sein Haus zurückgezogen, durchs Leben, rollt sich um einen Kern zusammen - und all das Wichtige, über das er nie spricht, verschmilzt mit dem Gehäuse und wird mit den Jahren immer härter, mit der Folge, dass es für andere immer schwerer wird, an dich heranzukommen, und für dich, andere zu erreichen. Die Schale wird Abwehrbollwerk und Gefängnis in einem. Möchte man so leben? Möchte man so sterben?"
Ebd., 492
"Jeder wird mit seinem Wesenskern geboren. Natürlich haben Ereignisse im Leben ihre Einwirkung darauf, aber wenn er solide ist, dann verändern sie den Menschen nicht in seiner Substanz. Du bist, wer du bist, und das warst du immer. Aber es ist notwendig für dich zu vergeben. Zu verzeihen ist manchmal das Gleiche, wie zu sich selbst zu stehen. Wer andern vergibt, findet sich selbst. Und wer sich selbst findet, ist frei."
Ebd., 529