Sonntag, November 22, 2015

"Aber nun bin ich lange genug allein gewesen. Schaut, ich krieg schon wieder Lust, Zeitungen zu lesen. - Kommt doch ins Zimmer. - Ich möchte von der Einsamkeit sprechen. Ich glaube, es gibt sie gar nicht. Sie ist vielmehr ein künstliches, von aussen erzeugtes Gefühl. Einmal sass ich hier in diesem Raum in tiefem tiefem Stumpfsinn. Weiter weg lagen im [...] Aschenbecher Zigarettenkippen vom letzten Abend. 'Dort hab ich also am letzten Abend gesessen, im gleichen Stumpfsinn wie heute', dachte ich. 'Gestern sass ich dort und heute hier.' Und diese Vorstellung von mir rührte mich so, dass ich mich auf einmal gestreichelt fühlte. Das war also die Einsamkeit. Stolz vor Einsamkeit war ich, beschwingt einsam, einsamkeitsüberströmt. Ähnlich wurde die Einsamkeit hergestellt, als ich ein andermal in der Nacht auf der Terrasse draussen sass. Ich trank eine Flasche Wein, und die Zeit verging ohne Anstrengung. Da gingen am Waldrand Leute vorbei und schauten zu mir herüber. 'Wie allein muss ich denen wohl vorkommen', dachte ich, und sofort war ich wieder eingewiegt in die aussengelenkte, künstliche Einsamkeit. Sie ist ein bloss theatralischer Zustand und entsteht in dem Augenblick, da man sich als Schauspieler seiner selbst fühlt. Und dennoch sind es diese heuchlerischen Momente der Einsamkeit, in denen ich mich neugeboren fühle. Das ist das Paradox der Einsamkeit. Das mich überströmende Gefühl der Geborgenheit, das ich dabei empfinde."
Der Industrielle in "Falsche Bewegung" von WIM WENDERS, D 1975
"Ezmari redet seit Wochen davon, welche Fotos er machen wird von Geburtstagsfeiern und Hochzeiten, von Sprüngen mit dem Velo, von Schloss Lenzburg, vom Sternenhimmel morgens um fünf, wenn er aufsteht, vielleicht sogar von seinen Mitschülern. Er will alles festhalten. Sein ganzes neues Leben."
PAULA SCHEIDT: Schweizer Familie : als ihr Sohn auszog, nahm die Familie Stucki Ezmari auf, einen Flüchtling aus Afghanistan ... In: Das Magazin, No. 41, 10.10.2015, 17
"Blut fliesst, Menschen werden zu Krüppeln, überall Elend und Verzweiflung. Und ich kümmere mich nicht darum. Nur meine eigenen Probleme interessieren mich. Grosses ist geschehen, aber ich hatte keine Kraft zu schreiben. Ich habe mich nicht einmal um so etwas Beachtenswertes wie ein Attentat auf Hitler gekümmert."
Aus: ASTRID LINDGREN: Die Menschheit hat den Verstand verloren : Tagebücher 1939-1945. Berlin : Ullstein, 2015

Mittwoch, November 18, 2015

PILGER
zwischen rast / und unrast / schritt für schritt
leichter / das Gepäck / hier als dort / wo du los / gezogen
auf die frage / wohin des wegs / die entgegnung /
des heimlichen / lotsen / nach hause / stets / als fremde
die rückkehr / an den ort / des aufbruchs / das schwerste
ANDREA MARIA KELLER: Mäanderland, 2013