Samstag, Oktober 14, 2023

 "Mein Großvater pflegte zu sagen: 'Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen - schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.'" 
FRANZ KAFKA: Das nächste Dorf. 
"In einer von Franz Kafkas Parabeln sagt der Grossvater, er könne kaum begreifen, warum ein junger Mensch sich entschliesse, ins nächste Dorf zu reiten, obwohl doch die Lebenszeit dazu bei weitem nicht ausreiche. Was meint er damit?"
"Kafkas Werk ist von einer solch atemberaubenden Gegenwärtigkeit, dass mir beim Lesen regelrecht schwindelig wird. Die Reinheit des Augenblicks ist bei ihm durch nichts gestört. Alle anderen sind dagegen geschwätzig. Der Grossvater ist die Inkarnation Kafkas selbst: Auch in dieser Parabel geht es um eine vollständige Wahrnehmung des Augenblicks, in der es keine Vergangenheit und Zukunft gibt, um lauter Unendlichkeiten, die sich bei der Betrachtung jedes Dings, das auf dem Weg ins nächste Dorf liegt, offenbaren."
MANFRED OSTEN ; [im Gespräch mit] Dirk Gieselmann: "Worum sorgen wir uns? Dass wir nicht mehr zum Leben kommen!" In: Das Magazin. 2023, N° 41, 22-23

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