Dienstag, Januar 10, 2012

"Sie [Elfriede Kuhr] weiss nicht, warum sie aufwacht. [...] Plötzlich hört sie Gesang, schwach, aber wohlklingend, vom benachbarten Bahnhof. Sie spitzt die Ohren, erkennt die Melodie nicht, lauscht auf die Worte. Sie hört, wie mehr und mehr Stimmen hinzukommen. Der Gesang wird lauter: 'Es ist bestimmt in Gottes Rat, dass man vom Liebsten, das man hat, muss scheiden.'
Der Gesang steigt immer deutlicher zum sternklaren Nachthimmel auf, aber sie selbst versinkt mehr und mehr. Wir lassen die Kindheit immer nur widerwillig und schrittweise hinter uns, und jetzt, in diesem Augenblick, überfällt Elfriede jene Einsicht, von der sich ein Kind nie richtig erholt und die Erwachsene so oft trauern lässt. Und sie kauert auf ihrer Liege und weint:
Warum sangen die Soldaten in der Nacht? Warum gerade dieses Lied? Das ist doch kein Soldatenlied. Waren es überhaupt Soldaten? Brachten sie vielleicht Gefallene in Soldatensärgen in unsere Stadt? Waren Eltern, Witwen, Waisen, Bräute am Zug? Weinten sie ebenso wie ich?
Dann ist ein Geräusch im Schlafzimmer ihrer Grossmutter zu hören; als ob sich jemand schnäuzt. Elfriede steht auf, schleicht vorsichtig ins Zimmer hinein, fragt flehend: 'Kann ich ein bisschen zu dir ins Bett?' Die Grossmutter zögert erst, und hebt dann ihre Decke: 'Na, denn komm!' Sie schmiegt sich in den Schoss der Grossmutter, drückt den Kopf an ihre Brust und schluchzt. Die Grossmutter presst die Stirn auf ihr Haar, und Elfriede spürt, dass auch sie weint.
Sie entschuldigen sich nicht, sie stellen keine Fragen."
PETER ENGLUND: Schönheit und Schrecken: eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen. Berlin : Rowohlt, 2011, 160

Montag, Januar 09, 2012

"Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Allerdings ist man dem näher als anderen. Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt. Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Als das war, von dem wir jetzt sagen, dass es gewesen sei, haben wir nicht gewusst, dass es ist. Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.
In der Vergangenheit, die alle zusammen haben, kann man herumgehen wie in einem Museum. Die eigene Vergangenheit ist nicht begehbar. Wir haben von ihr nur das, was sie von selbst preisgibt. Auch wenn sie nicht deutlicher wird als ein Traum. Je mehr wir's dabei beliessen, desto mehr wäre Vergangenheit auf ihre Weise gegenwärtig. Träume zerstören wir auch, wenn wir sie nach ihrer Bedeutung fragen.
[...]
Die, die sich am sehnsüchtigsten um die Vergangenheit bemühen, sind am meisten in Gefahr, das, was sie selber hervorgebracht haben, für das zu halten, was sie gesucht haben. Wir können nicht zugeben, dass es nichts gibt als die Gegenwart. Denn sie gibt es ja auch so gut wie nicht. Und die Zukunft ist eine grammatikalische Fiktion.
[...]
Öfter ist es ein Mangel an Rechtfertigung, der einen ins Vergangene weist. Man sucht Gründe, die es rechtfertigen könnten, dass man ist, wie man ist.
[...]
Dass Menschen mit unausgeglichenen Vergangenheiten zusammenleben könnten, als die Verschiedenen, sie sie auch durch ihre Vergangenheiten sind, ist Wunschdenken."
Aus: MARTIN WALSER: Ein springender Brunnen.
Bild: Hugo Keller
Zimmerwald, 01.01.2010

Sonntag, Januar 08, 2012

"Ich stehe an der Küchentür. Ein Licht fällt herein, das mir neu ist. Einen Lidschlag lang sitzen alle Familienmitglieder und alle Gäste, die je an unserem Küchentisch gesessen haben, um diesen vereinigt, ich unter ihnen, in wechselnder, alternder Gestalt. Aus vielen Augenpaaren blicken wir über die Zeit hin einander an."
CHRISTA WOLF

Dienstag, Januar 03, 2012

Bild: Hugo Keller
St. Petersinsel, 10.01.2010


"Manchmal gehe ich in der Nacht spazieren. [...] Was ich will, ist die rabenschwarze Nacht als Zustand, als etwas, in das man eintauchen kann, in dem man sich auflösen kann; was ich will, ist, dass die Dunkelheit frei durch meine Augen herein strömt und sich der Körper ausdehnt und nicht länger unterscheiden lässt, nicht mehr so wichtig ist, wie er es für mich mitunter sein kann, das muss ich zugeben, dass ich oft monoman und hypochondrisch in mich hineinhorche. Was ich will, ist, dass sich die Grenze zwischen Körper und Nicht-Körper eine Spur auflöst, es vielleicht zu einer kleinen Osmose kommt, wo das eine aufhört und das andere anfängt und alles verwischt. Genau das will ich, wenn ich es leid bin, ich selbst zu sein, [...]. - Ein Stück tiefer im Wald spüre ich den Druck der Bäume von beiden Seiten, es werden immer mehr, das Terrain steigt an, ich lasse die Füsse den Steinen und Wurzeln des Pfades folgen, und sie schaffen es spielend, aber ich schlucke und denke, was fehlt mir eigentlich? Ich bin einundfünfzig. Der Raum um mich herum ist nicht länger unendlich. Das ist die Wahrheit. Die Ewigkeitsperspektive ist zusammengebrochen, und dann kann der Überdruss plötzlich wie ein böser Wind über einen hinwegfegen und alles, was man will, zerrinnen lassen. Dann heisst es, am Tag schnell und nachts ins Dunkle laufen, [...]. Ich mache die Augen auf, starre in die Dunkelheit und schliesse sie sofort wieder, es spielt keine Rolle, es macht keinen Unterschied. Ich sehe gleich viel oder gleich wenig. [...] Ich weiss nicht, warum es mir so geht, weiss nicht, ob das normal ist, ob es auch anderen Menschen so geht, aber offen gestanden kriege ich es nicht geregelt. Dass die Welt nicht eins ist, dass die Welt nicht ganz ist, dass ich mich vielleicht entscheiden muss, das alles hinter mir zu lassen, und wenn ich irgendwo hinkommen will, muss ich zugleich verlassen, was meins ist, was ich kann und was ich kenne, muss die verlassen, die auf den Treppen vor meinem Haus sitzen und Kaffee trinken und über alles reden, was sie können, muss für immer von ihnen Abschied nehmen. Und wenn es das ist, was ich tun muss, um mich weiterzuentwickeln, wie es heisst, was ist dann der Sinn des Ganzen?"

Aus: PER PETTERSON: Der Mond über Porten : "ich schwebe frei durch die Dunkelheit - ein Versuch über die Sehnsucht nach dem Nichts". In: NZZ, 18.-19.07.2009, B1-B2
Bild: Hugo Keller
Konolfingen-Bern, 27.12.1995