Mittwoch, Mai 28, 2014

"Dieses Leben, das viel von Überleben hat, war weder heiter noch grossartig, aber es war möglich, darüber staunte einer nach vierzig, fünfzig Jahren noch."
WALTER VOGT
"Und dass er ein Naturbursche sei, sagte Baur, sich wieder mir zuwendend, habe sich daran gezeigt, dass er sich erst wieder wohl gefühlt habe, nachdem er im Schweisse seines Angesichts im Obstgarten habe arbeiten können. Auch seine Zuneigung zu Thoreau deute darauf hin, zu Henri David Thoreau, der sich in Walden ein Blockhaus gebaut habe, an einem Waldsee, um über Jahre hin die Fische beobachten zu können, das Gras, den Ahorn, das Eichhörnchen, die Haselmaus, den Fuchs, die Eule, den Schnee, Wind, Blitz, das Eis. Wobei er seine Beobachtungen aufgezeichnet habe, und zwar dermassen gekonnt, dass diese sogar in der Übersetzung eine bewegende Lektüre darstellten. Immer wieder verspüre er das Verlangen danach, gebe diesem aber selten statt. Aber man wisse ja: gerade was einem nah sei, könne man seltsamerweise so hintansetzen."
GERHARD MEIER: Borodino. Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1987, 34-35

Mittwoch, Mai 14, 2014

"Die Gedanken schweiften von den Buchseiten ab, und immer häufiger ertappte er sich dabei, wie er dumpf vor sich hin ins Nichts stierte; es war, als würde sein Kopf nach und nach von allem Wissen geleert und sein Wille aller Kraft beraubt. Manchmal fürchtete er, nur noch vor sich hin zu vegetieren, und er sehnte sich nach etwas, das ihn durchbohrte, sei es auch ein Schmerz, damit er sich endlich wieder lebendig fühlte.
Er hatte jene Phase in seinem Leben erreicht, in der sich ihm mit wachsender Dringlichkeit eine Frage von solch überwältigender Einfachheit stellte, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Er begann sich nämlich zu fragen, ob sein Leben lebenswert sei, ob es das je gewesen war. Alle Menschen, vermutete er, stellten sich zu dem ein oder anderen Zeitpunkt gewiss diese Frage, doch hätte er gern gewusst, ob sie sich ihnen mit solch unpersönlicher Wucht aufdrängte wie ihm. Die Frage ging mit einer Trauer einher, einer unbestimmten Trauer, die (so nahm er an) nur wenig mit ihm selbst oder seinem besonderen Los zu tun hatte; ja, er war sich nicht einmal sicher, ob sie sich ihm aus dem unmittelbar gegebenen, offensichtlichen Anlass stellte, also den kürzlichen Veränderungen in seinem eigenen Leben. Sie rührte, glaubte er, eher aus der Anhäufung seiner Jahre her, aus der Verdichtung von Zufall und Umstand sowie aus dem, was er darunter zu verstehen gelernt hatte. Er fand ein ebenso grimmiges wie ironisches Vergnügen an der Möglichkeit, ihn habe jenes bisschen Bildung, das er sich erworben haben mochte, zu folgender Einsicht geführt: Letzten Endes war alles, selbst das Studium, das ihm dieses Wissen ermöglichte, sinnlos und vergeblich und gerann zu einem unabänderlichen Nichts."
JOHN WILLIAMS: Stoner. 6. Aufl. München : Deutscher Taschenbuch Verlag, 2014, 226-227
"ROGER: Wahrscheinlich haben wir nach unserer Trennung dasselbe gemacht: Du hast dir recht gegeben, ich habe mir recht gegeben, der Rest ist Bitterkeit. Was die Erinnerung leichter macht als Reue. Deine Geschichte mit Roger, meine Geschichte mit Francine, vielleicht decken sie sich nicht einmal in der Grössenordnung, nur in den Daten stimmen sie überein."
MAX FRISCH: Triptychon. 1. Aufl. Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag, 1981, 107
"Ich ging. Ich ging in der Richtung einer Sehnsucht, die weiter nicht nennenswert ist, da sie doch, wir wissen es und lächeln, alljährlich wiederkommt, eine Sache der Jahreszeit, ein märzliches Heimweh nach neuen Menschen, denen man selber noch einmal neu wäre, so, dass es sich auf eine wohlige Weise lohnte zu reden, zu denken über viele Dinge, ja, sich zu begeistern, Heimweh nach ersten langen Gesprächen mit einer fremden Frau. Oh, so hinauszuwandern in eine Nacht, um keine Grenzen bekümmert! Wir werden schon keine, die in uns liegt, je überspringen..."
MAX FRISCH: Bin oder Die Reise nach Peking. In: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 1.2: 1931-1944. Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag, 1976, 604
"Wer denkt nicht manchmal: so müsste man sein ganzes Dasein erleben können, wie diesen Tag, als ein grosses, ein einziges, ein dauerndes Abschiednehmen... wandern und nicht verweilen, wandern von Stadt zu Stadt, von Ziel zu Ziel, von Mensch zu Mensch, immerfort wandern und weitergehen, auch da, wo man liebt und gerne bliebe, auch da, wo das Herz bricht, wenn man weitergeht... und auf keine Zukunft sich vertrösten, ganz und gar die Gegenwart empfinden, als ein immer Vergängliches... und so ein ganzes Dasein lang... und alles nur erobern, um es zu verlieren, und immer weitergehen, von Abschied zu Abschied..."
MAX FRISCH: Blätter aus dem Brotsack. In: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 1.1: 1931-1944. Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag, 1976, 125