Samstag, April 04, 2020

"'[...] Mit der Zeit habe ich [Tarrou] einfach erkannt, dass selbst diejenigen, die besser sind als andere, es heute nicht mehr vermeiden können, zu töten oder töten zu lassen, weil das in der Logik liegt, in der sie leben, und dass wir in dieser Welt keine Bewegung machen können, ohne dabei Gefahr zu laufen, den Tod zu bringen. Ja, [...] ich habe gelernt, dass wir alle in der Pest sind, und ich habe den Frieden verloren. Ich suche ihn noch heute, indem ich probiere, alle zu verstehen und keines Menschen Todfeind zu sein. Ich weiss nur, dass man alles Nötige machen muss, um nicht mehr an der Pest zu kränken, und dass nur darin eine Hoffnung auf Frieden liegt oder doch wenigstens auf einen guten Tod. Das ist es, was die Menschen erleichtern kann und ihnen, wenn es sie auch nicht rettet, doch möglichst wenig Böses zufügt und manchmal sogar ein bisschen wohltut. Und darum habe ich beschlossen, alles abzulehnen, was von nah oder fern, aus guten oder schlechten Gründen, tötet oder rechtfertigt, dass getötet wird.
Deshalb kann diese Epidemie mich auch nichts lehren, ausser, dass ich sie an Ihrer Seite bekämpfen muss. Ich habe die unumstössliche Gewissheit (ja, Rieux, ich weiss alles vom Leben, Sie sehen es wohl), dass jeder die Pest in sich trägt, weil kein Mensch, nein, kein Mensch auf der ganzen Welt frei davon ist. Und dass man sich ohne Unterlass überwachen muss, um nicht in einem Augenblick der Zerstreutheit dazuzukommen, einem anderen ins Gesicht zu atmen und ihm die Krankheit anzuhängen. Was naturgegeben ist, das sind die Mikroben. Alles übrige, die Gesundheit, die Rechtlichkeit, die Reinheit, wenn Sie wollen, ist eine Folge des Willens, und zwar eines Willens, der nie erlahmen darf. Der ehrliche Mensch, der fast niemand ansteckt, ist jener, der sich am wenigsten ablenken lässt. Und wieviel Willen und Anspannung sind nötig, um nie zerstreut zu sein! Ja, Rieux, es ist sehr anstrengend, pestkrank zu sein. Aber es ist noch anstrengender, es nicht sein zu wollen. Deshalb sind alle Leute so müde, weil heute alle Leute ein wenig pestkrank sind. Aber deshalb erleben einige wenige, die nicht mehr krank sein wollen, eine so übergrosse Erschöpfung, von der sie nichts mehr befreien wird als der Tod.'"
Ebd., 149-150

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