Samstag, März 12, 2022

"Mich reizt die Idee Russlands als eines uneindeutigen Staates. Eines Staates, der zu Europa ebenso gehört wie zu Asien. Eines Staates mit definierten Grenzen, der zugleich beweglich ist, eines Staates 'unterwegs'. Mir fällt immer der alte Witz aus sowjetischer Zeit ein: An wen grenzt die Sowjetunion? An wen sie will. In diesem Witz steckt eine tiefere Wahrheit, denn die Geschichte Russlands ist eine Geschichte, die mehr im Raum als in der Zeit spielte, es ist eine Geschichte, die im Grunde Geographie ist. Während Europa sich der Vervollkommnung des eigenen, wohldefinierten Territoriums widmete, seiner Bebauung, Urbanisierung, den Kathedralen, Städten, den aufeinanderfolgenden Epochen, der Renaissance, dem Barock, der immer und unaufhörlich sich aktualisierenden Zukunft, war Russland von seinem schieren Ausmass in Anspruch genommen. Andere Sorgen kannte es nicht."
ANDRZEJ STASIUK: Ein Staat "unterwegs". In: Euromaidan : was in der Ukraine auf dem Spiel steht / herausgegeben von Juri Andruchowytsch. Suhrkamp : Berlin, 2014. (edition suhrkamp), 197

Donnerstag, März 10, 2022

"[...] es gibt in unserem Europa einiges, was man dekonstruieren sollte. Allem voran die Idee von Europa selbst, wie sie heute existiert oder vielmehr nicht existiert. Europa war nie etwas Einheitliches, doch es gab die Illusion eines geistigen Raumes, mit bestimmten Werten und Traditionen, die für uns alle verbindlich sind. Diese Selbsttäuschung sieht sich gegenwärtig schweren Herausforderungen ausgesetzt. Nichts ist mehr sicher, nichts endgültig, nichts selbstverständlich. Alles, wirklich alles soll von Grund auf in Frage gestellt werden.
Auch ohne die ukrainische Revolution hätte es eine grosse Diskussion über die Grundlagen des Europäischen gebraucht. Heute ist es erst recht offensichtlich: eine solche Diskussion ist eine existentielle Notwendigkeit. Das Bild, das Europa seit etwa 1989 von sich selbst entworfen hat, ist dahin. Vorbei die vermeintliche Einheit, passé die unausgesprochene Übereinkunft, was den 'europäischen geistigen Raum' ausmachen könnte."
JURKO PROSCHASKO: Kleine europäische Revolution. In: Euromaidan : was in der Ukraine auf dem Spiel steht / herausgegeben von Juri Andruchowytsch. Suhrkamp : Berlin, 2014. (edition suhrkamp), 114
"Das Zögern mit den Sanktionen, erst gegen Janukowytsch und seine Umgebung, dann gegen das Putin-Regime wird als Verrat an der Ukraine und an den europäischen Werten interpretiert, als politische Blindheit oder sogar als imperialistische Verschwörung mit dem Ziel, die Ukraine zwischen Russland und dem Westen aufzuteilen.
Andere nehmen Europa in Schutz, versuchen die Gründe zu verstehen, und sogar etwas Gutes darin zu entdecken.
Was viele Ukrainer heute in Bezug auf Europa empfinden, ist eine seltsame Mischung aus Bewunderung, Neid, Verachtung, Erwartung, Hoffnung, Enttäuschung. Mit einem Wort: Ressentiments. Die Vorstellung breitet sich aus, die europäische Idee könne sich von EU-Europa lösen und wäre in der Ukraine besser aufgehoben als dort. Jedenfalls gibt es ein starkes Empfinden moralischer Überlegenheit. Oder sagen wir uns: Wir können uns nur auf uns selber verlassen. Putin ist der klare, deklarierte Feind, auf Europa ist kein Verlass, 'den Westen' gibt es nicht.
Gut daran ist: das Selbstgefühl, bei den Ukrainern chronisch unterentwickelt, wird gestärkt: Seit wir diese Revolution geschafft haben, wächst die Überzeugung, mitreden zu können, diesmal als souveräner Teil Europas, um die europäische Realität mitzugestalten, als ebenbürtiger Partner. Nur: was diese Realität ist, versteht niemand."
Ebd., 123
"Die verwirrende, brutale, zarte, absurde, verzweifelte Wirklichkeit im Krieg zu beschreiben, in all ihrem Grauen, aber auch all ihrer Humanität, das braucht endlos viele Worte."
CAROLIN EMCKE [im Interview mit Nora Zukker]: «Die Zurückhaltung der Nato halte ich für notwendig – aber schwer zu ertragen». In: Der Bund, 10.03.2022