Freitag, April 03, 2020


Dann haben Sie auch nie Tagebuch geführt? 
Ich habe es immer wieder versucht, aber ich hatte nicht das geringste Talent dazu. Es ging mir damit wie mit dem Fotografieren. Wenn ich mit einer Kamera in der Hand herumgegangen bin, wurde die Welt viereckig. Das heisst, ich suchte Motive. Wenn ich anfing, Tagebuch zu führen, begann ich, fürs Tagebuch zu leben, mir Leute oder Beizen auszusuchen in Hinblick darauf, ob sie interessant genug wären für meine Aufzeichnungen. Das Tagebuch versaute mir das Leben.
Sie sind ein Autor, den man nach wenigen Sätzen erkennt. Ist Ihnen Ihr Stil einfach zugefallen, oder haben Sie ihn bewusst geformt? 
So etwas wie einen "Stilwillen" habe ich nie gehabt. Mein Tonfall hat vermutlich viel mit meiner näselnden Aussprache zu tun. Als Kind wurde ich deshalb oft verspottet. Aber dann gab es ein wichtiges Ereignis in meinem Leben: Mein Hals-, Nasen- und Ohrenarzt hat mich untersucht und gesagt: Die Nasengänge sind zu schmal. Die könnte man erweitern. Ich war einverstanden, ich hatte keine Angst vor der Operation. Ich freute mich und dachte: Jetzt bin ich dann so wie die anderen. Aber drei Tage vor dem Termin habe ich zu meiner Mutter gesagt: «Ich lasse das nicht machen.» Ich bin zum Arzt gegangen und habe ihm gesagt: «Ich möchte mich nicht operieren lassen. Das ist meine Stimme, und die möchte ich behalten.» Da hat er mich angeschaut und gesagt: "Du bist ein gescheiter Bub."
Sie sind ein erratischer Block in der Schweizer Literatur; zugleich werden Sie von jungen Kollegen verehrt. Schmeichelt Ihnen das? 
Ich weiss nicht, ob das stimmt. Ich hoffe nicht. Es wäre ein Missverständnis. Wenn ich nicht mehr bin, und das wird nächstens sein, werden meine Sachen sehr schnell in Vergessenheit geraten. Ich werde nicht in die Literaturgeschichte eingehen.
Aus: PETER BICHSEL: "Ich kann gut dasitzen und nichts tun" / Interviw: Manfred Papst, NZZ am Sonntag, 28.03.2020

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