Sonntag, Juni 25, 2006


Bild: Hugo Keller
Dublin, 02.08.1989
Blackrock
"Die Präsidenten sind angereist, um sich gemeinsam fotografieren zu lassen und miteinander zu dinieren. Nach dem Essen setzen sie sich an einen runden Tisch und reden übers Regieren, derweil die Verdauung sie träge macht. Was sie sagen, wurde ihnen von Angestellten aufgeschrieben. Die Angestellten, welche Präsidenten aufschreiben, was sie zu sagen haben, sind in der Regel unfroh und trinken aus Überdruss zuviel Alkohol. Die Sätze der Präsidenten sind deswegen meist vernebelt. Präsidenten hören einander jedoch nicht zu und stören sich deswegen nicht am Nebel, in dem sie gemeinsam versinken. Sie sind vom vielen Reisen müde und dösen vor sich hin, nachdem sie ihre Sätze abgelesen haben. Da Präsidenten in der Gefahr stehen, von Wahnsinnigen umgebracht zu werden, schirmt man sie von der Aussenwelt ab. Auf diese Weise geschieht es nur selten, dass die vernebelten Sätze, die sie sagen, an die Öffentlichkeit dringen. Was an die Öffentlichkeit dringt, sind Zusammenfassungen ihres Gesagten, welche wiederum von anderen Angestellten gemacht werden, die ebenfalls aus Überdruss rauchen und zuviel Alkohol trinken."

MATTHIAS ZSCHOKKE: Maurice mit Huhn. Zürich: Ammann Verlag 2006, 176.

Montag, Juni 05, 2006

"Und nicht nur sie; alle Genossen des heutigen Tages, und tausend und tausend andere Menschen sanken allgemach in das tägliche Grab des Schlafes hinunter. Die Nacht mit ihrem Sternenhimmel zog vorüber, leise schreitend, ob sich junge Herzen des vorangegangenen Tages erfreut hatten oder ob alte wieder um einen näher dem Tode waren - sie zog vorüber, und rückte sachte Stern nach Stern gen Westen, bis sie endlich am Saume ihres Kleides im Morgen jenen lichten grauen Schleier emporhob, an den sich dann der Tag heftet; schon umgeben von den tausend und tausend luftigen Bildern der Freude, die sich heute zu den sterblichen Menschen gesellen werden, und den tausenden und tausenden der Leiden, die sie heimzusuchen bestimmt sind."

ADALBERT STIFTER: Der Hagestolz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005, 14.

Bild: Hugo Keller
Dublin, 16.07.1989