Freitag, November 25, 2022

 "Dass einer, von einem Standpunkt aus, den wir nicht teilen, seine Betrachtungen anstellt, heisst nicht, dass diese Betrachtungen wertlos sind. Es ist möglich, dass er von dort aus Dinge sieht, die uns von unserem Standpunkt aus entgehen."
Aus MANI MATTERS "Sudelheften", zit. nach: Nadine A. Brügger: "Dä, wo so Liedli schribt : heute vor 50 Jahren starb Mani Matter : Betrachtungen über einen, der die Schweiz verstand". Neue Zürcher Zeitung. Donnerstag, 24. November 2022, 32

Dienstag, November 22, 2022

"Die Lüge ist [...] in der Politik verblüffend akzeptiert: Fast niemand wundert sich darüber. Das deshalb, weil der Job des Politikers nicht die Beschreibung der Wirklichkeit ist, sondern ihre Veränderung. Und nichts verändert die Wirklichkeit so effizient wie eine Lüge.
Nur hat die Lüge den Haken, dass sie nicht die Tatsachen verändert, nur deren Wahrnehmung. Und dass sie nur so lange trägt, wie sie erfolgreich ist: solange sie dem Lügner die Macht verschafft, dass andere seine Lüge glauben – oder glauben, sie für die Karriere glauben zu müssen.
Was heisst, dass die Strategie der systematischen Lüge in der Politik ebenso wie in Geschäft oder Familie grundsätzlich Richtung Autokratie führt: weil sie nur so eine solide Basis bekommt, dauerhaft zur Wahrheit zu werden. Der Todfeind der politischen Lüge ist deshalb auch nicht die Widerlegung, sondern der Macht­verlust."
REPUBLIK, Newsletter vom 21.11.2022

Montag, November 21, 2022

 "Wo Subjekte Schönheit erfahren, erfahren sie die Möglichkeit einer gelingenden Beziehung zur Welt und damit reales Glück - weil diese Beziehung indessen nicht ihre alltägliche und praktisch-tätige Weltbeziehung, nicht ihre gelebtes Weltverhältnis beschreibt, bleibt sie zugleich auch Schein, der Trauer und Sehnsucht erzeugt. '[Es] gibt [...] keine Erfahrung der Schönheit, in der sich nicht in das Glück der Erfüllung Trauer über seine Unwirklichkeit mischte', konstatiert Menke völlig zu Recht. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Schönheit und Glück liesse sich damit so auflösen, dass Schönheit Glück ist, weil sie reine Resonanz ist - und dass sie Schein bleibt, weil die menschliche Weltbeziehung als ganze niemals reine Resonanz werden kann."
HARTMUT ROSA: Resonanz. Erste Auflage. Berlin : Suhrkamp, 2016, 482-483

Freitag, November 18, 2022

 "Ich kann nicht mehr schreiben. Ich habe versucht, mir Bilder zu machen. Aber schreiben kann ich nicht mehr. Ich hatte einen Traum. Ich träumte, dass ich mein Schiff verlassen hätte, in die Stadt gegangen sei und dass ich dort ein Zimmer gemietet hätte. Ohne wirklich zu wissen warum. Ich blieb dort und wartete, unbeweglich. Mir träumte, die Stadt sei weiss. Das Zimmer sei weiss und auch, dass die Einsamkeit weiss ist, dass die Stille weiss ist. Ich bin müde. Ich würde gerne wieder lernen, über die Dinge zu sprechen. Ich denke an dich, ich liebe dich sehr."
Paul in "Dans la ville blanche" (1982) von ALAIN TANNER
"Es geht mir gut. Ich bin frei. Ich tue nichts. Ich bin nicht in den Ferien. In den Ferien tut man etwas. Man organisiert seine Freiheit. Ich nicht. Ich tue nichts.
Ebd.
"Das einzige Land, das ich wirklich liebe, ist das Meer. Ich liebe sie. Ich liebe dich."
Ebd.

Montag, November 07, 2022

"Was ich behielt lag weniger auf dem Gebiet der allgemeinen Bildung als auf dem Gebiet der Empfindungen, mein Wissen setzte sich zusammen aus bildmässigen Erfahrungen, aus Erinnerungen an Laute, Stimmen, Geräusche, Bewegungen, Gesten, Rhythmen, aus Abgetastetem und Gerochenem, aus Einblicken in Räume, Strassen, Höfe, Gärten, Häfen, Arbeitsplätze, aus Schwingungen in der Luft, aus Spielen des Lichts und des Schattens, aus Regungen von Augen, Mündern und Händen."
PETER WEISS: Abschied von den Eltern. Erste Auflage. Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag, 1980. (Bibliothek Suhrkamp ; 700), 69
 "Das Vergangene stieg auf wie eine Atemnot, wie der Druck einer Zwangsjacke, das Vergangene legte sich in tintigen, langsam sickernden Stunden um mich, und dann konnte es plötzlich zurücktreten und nichtig werden und einen kurzen Blick in die Freihet zulassen. Da sah ich meine Eltern voller Mitgefühl und Mitleid. Sie hatten uns alles gegeben, was sie uns geben konnten, sie hatten uns Kleider und Nahrung und ein gepflegtes Heim gegeben, sie hatten uns ihre Sicherheit und ihre Ordnung gegeben, und sie verstanden es nicht, dass wir ihnen nicht dafür dankten. Sie konnten es nie verstehen, dass wir ihnen entglitten. Aus der dumpfen Ungewissheit, Fehler begangen zu haben, kauften sie sich mit teuren Geschenken los, Geburtstage und allgemeine Festtage waren Abzahltage ihrer unbewussten Schuld. Und immer waren die Geschenke falsch, soviel wir auch bekamen, immer standen wir da mit unzufriedenen, nach Mehr fragenden Blicken. Das was wir haben wollten bekamen wir nicht, und wir wussten nicht, was wir haben wollten. So standen wir voreinander, wir Kinder unzufrieden, und die Eltern beleidigt, und unfähig waren wir, uns voreinander zu erklären. Und die Versperrtheit habe ich in mir übernommen. In mir übernommen habe ich das Missverständnis meiner Eltern. Die Befangenheit meiner Eltern wurde zu meiner eigenen Befangenheit. Ihre Stimmen leben in mir."
Ebd., 94-95
"Jetzt musste ich mich ganz aus dem Alten losreissen, oder zurücksinken."
Ebd., 129
"Unendlich langsam wachsen die Veränderungen heran, man merkt sie kaum. Manchmal empfand ich einen kurzen Stoss, und dann glaubte ich, etwas sei anders geworden, und dann schlug das Grundwasser wieder über mir zusammen und verbarg das Gewonnene im Schlamm."
Ebd., 137
"Da hatte ich mich selbst, ganz für mich allein, und niemand beobachtete mich, und niemand hemmte meine Schritte, ich konnte mit meinem Tag machen was ich wollte, und das war das Unmögliche, mit mir selbst fertig zu werden, mir selbst ein Dasein zu schaffen. Da stand ich, in dieser Stadt Prag, und sollte mich beweisen, ..."
Ebd., 142
"Ich verlor das manische Bedürfnis, tätig zu sein, und konnte am Seeufer in der Sonne liegen, oder im trockenen Gras einer Waldlichtung, ohne dass mich das schlechte Gewissen plagte. Und wenn ich etwas zeichnen oder niederschreiben wollte, so konnte ich vorher lange warten und meditieren, und das Zeichnen und Schreiben war nicht so wichtig, ich konnte es auch bleiben lassen, es war wichtiger, dass ich da war, dass ich lebte, und vor dem Arbeiten musste ich erst das Erleben lernen.