Samstag, Juli 23, 2022

"Was stelle ich mir unter einer 'Textur der Erinnerung' vor? Sie ist eine Art Aura. Ob wir alte Gegenstände, Steine oder Geschirr aufbewahren, ob wir Gemälde in Auftrag geben und an die Wand hängen, im Glauben, sie werden bleibend sein; ob wir akribisch jeden Zettel aufheben, auf dem wir irgendetwas notiert haben (so wie ich), oder ob wir naiv an die endlosen Möglichkeiten der Fotografie und des digitalen Gedächtnisses glauben - es ist und bleibt ein unmögliches Unterfangen, die Vergangenheit zu konservieren. Und dennoch zeigen uns die Fotografien Dayanita Singhs: Wenn wir all die Dinge, mit denen wir versuchen, das Vergangene zu bewahren, die alten Kunstwerke, Aufzeichnungen und Gegenstände, wenn wir also versuchen, diese im Gedächtnis zu fixieren, und zwar so, wie sie uns heute erscheinen - dann merken wir, wie existenziell, ja geradezu heilig diese unsere vergeblichen Versuche sind. Unser Gedächtnis bietet uns kaum je etwas, woran wir uns festhalten können. Aber vielleicht sind es auch gar nicht die Details unserer Erinnerungen, die zu uns sprechen, sondern die Aura der Erinnerung, die in den Dingen steckt, mit denen wir uns umgeben. Unweigerlich schürt diese Aura in uns eine Art von Melancholie - wie wenn wir griechische und römische Ruinen und verlassene Gebäude sehen."
Aus: ORHAN PAMUK: Siehst du den Geruch der Vergangenheit. In: Das Magazin, 2022, No 27 (23. Juli 2022), 23-27

Mittwoch, Juli 06, 2022

 "Die Furcht vor dem Verlassenwerden - und als Folge davon der Drang, die Menschen zu verlassen, von denen verlassen zu werden sie fürchtete - wurde zum Kennzeichen ihrer Persönlichkeit."
BENJAMIN MOSER über Susan Sontag. In: Ders.: Sontag : die Biografie. 1. Auflage. München : Penguin Verlag, [2020], 48
"Susan wurde der Eindruck vermittelt, das Leben der Mutter liege in ihren Händen, und Kinder in dieser Situation bemühen sich in der Regel verzweifelt darum, perfekt zu sein - Susan sei 'ungewöhnlich brav' gewesen, sagte ihre Mutter -, in der schrecklichen Furcht, dieser Verantwortung nicht gerecht zu werden. Im Bewusstsein seiner Unzulänglichkeit leidet das Kind eines Alkoholikers unter einem Mangel an Selbstwertgefühl, weil es, egal, wie überschwänglich es geliebt wird, immer den Eindruck hat, es versage. Unfähig, Liebe für selbstverständlich zu halten, wird es im Erwachsenenalter abhängig von der Bestätigung anderer - nur um sie zurückzuweisen, wenn es sie bekommt."
Ebd., 52
"Als Eltern für ihre Eltern dürfen sie [Kinder von Alkoholikern] die Sorglosigkeit normaler Kinder nicht ausleben. Und so legen sie eine frühreife Ernsthaftigkeit an den Tag. Doch wenn sie erwachsen sind, fällt die Maske 'ungewöhnlicher Bravheit' häufig, und es zeigt sich ein viel zu frühzeitig gealtertes Kind."
Ebd., 52-53
"Fremde in der eigenen Familie, verspürte sie keinen grösseren Wunsch, als zu entkommen."
Ebd., 53
"Doch obwohl sie versuchte, sich zu distanzieren ('ich hasse alles an mir - insbesondere alles Körperliche -, das ihr [der Mutter] gleicht'), die Verbindung, auch wenn sie sie leugnete, blieb bestehen."
Ebd., 55

Dienstag, Juli 05, 2022

"Die Medien belieferten jeden Einzelnen mit Bildern und Worten und nahmen ihm die eigene Erkundung und Erfahrung der Welt mehr und mehr ab. Sie schufen eine Scheinnähe der Wirklichkeit, die die entferntesten Dinge vertraut erscheinen liess und sie dadurch - mangels eigener Erfahrung - noch mehr entfremdete. [...] Zeit und Raum, die auch unseren eigenen Standpunkt definieren, verlieren dabei zunehmend an Bedeutung und machen auch die eigene Existenz beliebig, 'da es eben zur Struktur des In-der-Welt-Seins gehört, dass sich die Welt in konzentrischen Nähe- und Fernekreisen um den Menschen herum staffelt', schreibt Günther Anders. 'Und weil derjenige, dem alles gleichermassen nah und fern ist, derjenige, den alles gleichermassen angeht, entweder ein indifferenter Gott oder ein völlig denaturierter Mensch ist.'"
BORIS VON BRAUCHTITSCH: Kleine Geschichte der Fotografie. 3., durchgesehene und erweiterte Auflage. Ditzingen : Reclam, 2018, 152-153