Sonntag, Dezember 15, 2019

"Auch Bücher haben als Kollektivum keine Bedeutung, und deshalb strahlen Bibliotheken, zumal wenn man allein in ihnen ist, in ihrer Erhabenheit auch etwas Trauriges aus. Denn all diese Bücher reden ja nicht von selbst, sie sind nur Papier, wenn niemand sie liest, lebendig begraben die Autoren darin, so kommt es mir vor, wenn ich an meinen eigenen Regalen entlanggehe, in denen so viele Bücher aufgereiht sind, die ich seit Jahren nicht mehr oder noch gar nicht zur Hand genommen habe, sodass ich mich nicht mehr erinnere oder, schlimmer noch, nie erfahren werde, wovon sie erzählen und wie. Dann verwandeln sich die Buchrücken in lauter Grabsteine, und ich stehe vor der Grabwand als der einzige Mensch, der die Toten dahinter, die lebendig Begrabenen, wiedererwecken könnte. Und ich denke jedes Mal, ich müsse sie alle lesen oder wiederlesen, jede einzelne Buch, so viel Mühe hat sich ein Autor damit gemacht, so viele Qualen, Zweifel, Entbehrungen ausgestanden, einen solchen Reichtum an Gedanken, Erfahrungen, Fantasien auf hundert oder zweihundert oder tausend Seiten gebannt."
Aus: NAVID KERMANI: Abschied von meinem Leser. In: Das Magazin, 2019, N° 47 (23. November 2019), 22-28