Sonntag, Dezember 19, 2010

"You can read the life you're living, but you cannot change a word."
LEONARD COHEN on Q TV (CBC exclusive), 14.04.2009

Freitag, Dezember 17, 2010

"Paradox ist auch die Situation einer Freundin, die nicht in der DDR, sondern in einem bayerischen Dorf aufwuchs und heute in Berlin lebt. Unter dem Katholizismus dort hat sie als Kind gelitten, und doch überlegt sie heute, ihrer Tochter die Riten und Rituale einer Religion nahezubringen, von der sie sich selbst in einem schmerzhaften Emanzipationsprozess verabschiedet hat. Sie tut das aus einem einzigen Grund: Sie will ihrem Kind eine Herkunft geben, eine Geschichte, einen festen Grund, auf dem es stehen kann. Eine Herkunft, die viele von uns glaubten abstreifen zu müssen, um erwachsen zu werden. Und nun fühlen wir diese Herkunft nur noch aus der Distanz, als Versatzstück, Relikt oder ironisch gebrochenes Zitat. Wie eine lyrische Zeile aus einem Popsong."
J. HENSEL: Das Unglück des modernen Familienglücks. Zeit Online, 17.12.2010

Mittwoch, Dezember 15, 2010

"Pour continuer d'exister face aux autres techniques, la photographie devra réexaminer son rapport au réel. Pendant cent cinquante ans, l'enregistrement documentaire du monde fut - bien davantage que pour le cinéma - sa tâche prioritaire. Si cette mission demeure comme le prouvent de nombreux travaux photographiques de qualité, l'autorité de la chose photographique est aujourd'hui remise en question. Il n'est pas impossible que nous soyons en train d'assister au retour à une phase 'pré-photographique' ou plus aucune technique est là pour spécifiquement attester la réalité. On peut s'en réjouir et voir dans cette évolution une émancipation de la photographie, débarrassée, à l'instar de la peinture au XXe siècle, de sa fonction documentaire et jouissant désormais d'une large autonomie. On peut aussi s'en inquiéter: qui désormais dira le réel?"
QUENTIN BAJAC: Aprés la photographie? : de l'argentique à la révolution numérique. Paris: Gallimard 2010, 126-127

Bild: Hugo Keller
"Certains vivent", Dezember 2010

Mittwoch, Dezember 01, 2010

"Eigentlich war fast jeder Tag gleich. Ich führte ein kleines Tagebuch, doch wenn ich einmal zwei, drei Tage die Eintragungen vergessen hatte, konnte ich schon nicht mehr auseinanderhalten, was an welchem Tag geschehen war. Wenn gestern vorgestern wäre, würde es mir nicht auffallen. Manchmal frage ich mich, was das für ein Leben ist. Ich empfinde es nicht als leer. Ich wundere mich einfach nur. Darüber, dass sich gestern und vorgestern nicht unterscheiden lassen. Darüber, dass ich Teil eines solchen Lebens bin und davon verschluckt werde. Darüber, dass meine eigenen Fussspuren vom Wind fortgeweht werden, ehe ich Zeit habe, sie anzuschauen."
HARUKI MURAKAMI: Schlaf. Köln: Dumont 2010, 19

"Ich setzte mich wieder aufs Sofa und las weiter 'Anna Karenina'. Erst bei der jetzigen zweiten Lektüre fiel mir auf, dass ich eigentlich fast nichts vom Inhalt des Buches behalten hatte. An die meisten der auftretenden Personen und die meisten Szenen erinnerte ich mich nicht. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ein mir völlig unbekanntes Buch lesen. Seltsam, dachte ich. Ich war beim Lesen sicherlich sehr berührt gewesen, und doch war nichts davon geblieben. Jede Erinnerung an Schauder oder Erregung, die ich damals empfunden haben musst, war fein säuberlich, ohne dass ich es bemerkt hätte, verlöscht.
Was für eine Bedeutung besassen denn überhaupt jene unzähligen Stunden, die ich damals mit Lesen verbracht hatte?
Ich unterbrach meine Lektüre und sann eine Weile darüber nach. Doch ich fand keine Antwort, und kurz darauf hatte ich auch schon vergessen, worüber ich eigentlich nachdachte. Ich merkte nur plötzlich, dass ich geistesabwesend auf den Baum vorm Fenster blickte. Ich schüttelte den Kopf und las weiter."
HARUKI MURAKAMI: Schlaf. Köln: Dumont 2010, 39
"Die Frage nach der Schuld teilt die Welt, sie lässt keinen Platz mehr für das Fragen nach Gründen, für das Land, für die Leute, sie löst alles auf in einen Reiz und eine Reaktion und kennt nichts dazwischen, sie weiss nichts vom Recht im Unrecht und vom Unrecht im Recht. Das ist so schwierig, dem kann man nur durch die Fiktion gerecht werden, es geht nicht historisch oder journalistisch."
PETER HANDKE: "Dann wollen sie alles wissen" : der österreichische Schriftsteller spricht [...] über seine Sympathie für Partisanen und erklärt, warum er 1996 beim serbischen Kriegsverbrecher Radovan Karadzic zu Besuch war. In: Der Bund, 01.12.2010, 29