Mittwoch, April 27, 2011

"Was war, das lese ich in Geschichtsbüchern nach. Geschichten, nichts als Geschichten. Und die Menschen machen sich den Vorwurf gegenseitig, sie würden nichts aus den Geschichten lernen. Als ob Geschichten geschrieben würden, damit man lerne. Geschichten: Ordnen im Nachhinein. Die Welt, das blosse Leben, ist kein Theater. Von Dramaturgie keine Spur. Diese haben wir Geschichtenerfinder erfunden."

WALTER MATTHIAS DIGGELMANN: Werkausgabe. Bd. 3: Das Verhör des Harry Wind. 1. Aufl. Zürich: Ed. 8 2002, S. 108

Montag, April 04, 2011

"Anders als die Ordnungsmodelle der Professoren ist die reale Welt chaotisch und ihre Zukunft nicht berechenbar. Die Geschichte gehorcht keiner immanenten Vernunft, sondern mäandert blind und planlos durch die Zeit, ein spektakulärer, verschwenderischer Umzug ohne Ziel oder höhere Absicht. Sie wird gemacht von Menschen, von hochintelligenten, sinnbedürftigen, moralbegabten, aber unzuverlässigen Wesen, die jederzeit imstande sind zu zerstören, was sie erschaffen haben, barocke Figuren, auf der einen Schulter ein Teufel, auf der anderen ein Engel. Der Bestand der Humangesellschaften ist nicht verankert in einem angeborenen, naturwüchsigen Set sozialer Verhaltensweisen oder in einem unverbrüchlichen göttlichen Sittenkodex, sondern hängt ab von fragilen, frei gewählten Regeln und Werten. Und so, wie Einzelne immer wieder die zivilisatorischen Gesetze brechen, können auch ganze Kollektive den Verlockungen der Allmacht, des Triumphs, des Endzeitrausches erliegen."

EUGEN SORG: Die Lust am Bösen : warum Gewalt nicht heilbar ist. München: Nagel & Kimche 2011, 56-57
"Nationalismus und Religion als primäre Ursache des Krieges anzusehen, blendete tatsächliche, mächtigere Antriebe des Handelns aus. Die meisten Menschen berauschen sich nicht an Ideen, sondern sie benutzen Ideen, um ihren Rausch zu legitimieren. Man bestiehlt und tötet den anderen aus konkreten Gründen: aus Habgier, Eifersuchte, Rache und Lust, zur Selbstverteidigung, weil man dazu gezwungen wird, weil man glaubt, nicht erwischt zu werden - aber kaum aus einer abstrakten Idee heraus."

EUGEN SORG: Die Lust am Bösen : warum Gewalt nicht heilbar ist. München: Nagel & Kimche 2011, 17