Samstag, April 25, 2015

"Leid rekonfiguriert die Zeit, ihre Länge, ihre Beschaffenheit, ihre Funktion: Ein Tag bedeutet nicht mehr als der andere, warum sind sie dann voneinander abgesetzt und tragen verschiedenen Namen? Auch der Raum wird rekonfiguriert. Man ist in eine neue Geografie eingetreten, die anhand einer neuen Kartografie dargestellt wird. Als orientiere man sich an einer Landkarte aus dem siebzehnten Jahrhundert, auf der die Wüste des Verlusts eingezeichnet ist, der (windstille) See der Gleichgültigkeit, der (ausgetrocknete) Fluss der Trostlosigkeit, der Sumpf des Selbstmitleids und die (unterirdischen) Höhlen der Erinnerung."
JULIAN BARNES: Lebensstufen. 2. Aufl. Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2015, 103

 
Bild: Hugo Keller
Wohlensee, 19.04.2015

Freitag, April 17, 2015

"Man bringt zwei Menschen zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden. Manchmal ist das wie jener erste Versuch, einen Wasserstoffballon an einen Heissluftballon zu koppeln: Man hat die Wahl zwischen abstürzen und verbrennen oder verbrennen und abstürzen. Aber manchmal funktioniert es, und etwas Neues entsteht, und die Welt hat sich verändert. Dann wird irgendwann, früher oder später, aus dem einen oder anderen Grund, einer von beiden weggenommen. Und was weggenommen wurde, ist grösser als die Summe dessen, was vorher da gewesen war. Mathematisch mag das nicht möglich sein, aber emotional ist es möglich."
JULIAN BARNES: Lebensstufen. 2. Aufl. Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2015, S.83


Bild: Hugo Keller
Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, 01.04.2015

Samstag, April 11, 2015

"Misst sich ein gelungenes Leben am Erfolg, an den Taten, den messbaren Resultaten, am Wert des Erbes, das wir hinterlassen? Oder verhält es sich nicht so wie mit der Literatur, dass nämlich da Wesentliche zwischen den Zeilen steht, jenseits dessen, was man in einer Biografie darstellen kann? Sind die Momente des Glücks nicht jene, in denen wir die Taten und uns selbst vergessen und gegenwärtig werden, sind nicht die Momente, in denen wir ganz im Moment sind, die wahrhaft glücklichen.
Wer dies vertritt, stellt sich in Feindschaft zur bürgerlichen Gesellschaft und der ihr beiwohnenden Marktwirtschaft. Die Gegenwart ist dieser Gesellschaft nichts, alles ist ihr die Zukunft. Das Kapital bringt Zins durch Zeit, der Erfolg misst sich am Wachstum. In der bürgerlichen Gesellschaft ist alles in zeitlicher Entwicklung, alles in einem Fortschritt begriffen. Gleichzeitig darf sich nichts und niemand verwandeln. Das Glück ist definiert. Die Verhältnisse sind definiert, [...].
Weil alles für ihn in der Zukunft liegt, und weil diese alles andere als gewiss ist, fühlt sich der Bürger beständig in seinem Sein bedroht. Deshalb kämpft er um die Sicherheit seiner Verhältnisse. Ja, Sicherheit ist der bürgerliche Wert an sich. Der Bürger braucht Insignien, er braucht die Ehe, er braucht Besitz, einen Beruf, er braucht Wissen, er braucht Kultur, [...]. Er braucht diese unwandelbaren Werte, die Stabilität der Verhältnisse, und natürlich macht er sich dadurch angreifbar, denn er weiss, dass nichts bleibt, wie es war."
LUKAS BÄRFUSS: Metamorphosen : Max Frischs früher Roman "Die Schwierigen". In: Ders.: Stil und Moral : Essays. Göttingen : Wallstein, 2015, 100-101


Bild: Hugo Keller
Fribourg - Hauterive, 03.04.2015

"Das Leben lässt sich nicht kontrollieren, und wer es am meisten versucht, der wird am tiefsten fallen."
LUKAS BÄRFUSS: Metamorphosen : Max Frischs früher Roman "Die Schwierigen". In: Ders.: Stil und Moral : Essays. Göttingen : Wallstein, 2015, 107
"Denn es sind immer die Sieger, welche die Geschichte schreiben. Die Verlierer sind tot und werden schweigen. Was wir von der Vergangenheit wissen, ist so gesehen immer die Ideologie des letzten Überlebenden."
LUKAS BÄRFUSS: Macht und Erinnerung : zu William Shakespeares "Richard III.". In: Ders.: Stil und Moral : Essays. Göttingen : Wallstein, 2015, 68-69