Donnerstag, Januar 02, 2020

"Was verändert sich durch das Erzählen?
Man nennt es Reflexion. Ich war einmal für drei oder vier Wochen in Ägypten. Danach habe ich zwei Jahre lang Bücher über Ägypten gelesen, ich wollte wissen, was das ist, woher es kommt. Und nach meinem Bali-Erlebnis habe ich mich über den balinesischen Hinduismus informiert. Aber ich habe keinen Anlass, noch einmal nach Ägypten oder nach Bali zu fahren. Wir führen ja zwei Leben: Ein primäres - wandern, laufen, radfahren ...
... essen, trinken, schlafen ...
... und ein sekundäres. Das sekundäre Leben kann Verschiedenes heissen: zeichnen, Musik machen - oder eben erzählen, lesen. Ich habe eine Frau gekannt, eine leidenschaftliche Leserin. Sie las dauernd, aber sie war zugleich schwer depressiv und beschäftigte sich ständig mit ihrem Selbstmord. Und immer, wenn sie's tun wollte, fiel ihr ein: 'Dann kann ich nicht mehr lesen.' Umbringen wollte sie sich wegen der Erfahrungen in ihrem primären Leben, wegen dem, was ihr passiert ist, und dem, was sie gemacht hat. Sie lebte nur noch weiter für das passive, sekundäre Leben des Lesens: nicht für das Leben, sondern für das Zuschauen."
PETER BICHSEL: Was wäre, wenn? : ein Gespräch mit Sieglinde Geisel. Zürich : Kampa, 2018, 130-131