Donnerstag, September 24, 2020

"Ich fand noch andere schriftliche Überbleibsel und zwar aus den letzten Jahren, wo nicht aus letzter Zeit. In einem Mäppchen, das einen geringen Vorrat von Briefpapier enthielt, lag ein Blatt, das offenbar zu einem Briefe als Fortsetzung gehörte, indem die Schrift ganz oben in der linken Ecke anfing. Das Fragment aber lautete: 'Wenn es nun Gott wirklich geschehen läßt, daß mein Sohn unglücklich werden und ein irrendes Leben führen sollte, so tritt die Frage an mich heran, ob nicht mich, seine Mutter, die Verschuldung trifft, insofern ich es in meiner Unwissenheit an einer festen Erziehung habe mangeln lassen und das Kind einer zu schrankenlosen Freiheit und Willkür anheimgestellt habe. Hätte ich nicht suchen sollen, daß unter Mitwirkung Erfahrener einiger Zwang angewendet und der Sohn einem sicheren Erwerbsberufe zugewendet wurde, statt ihn, der die Welt nicht kannte, unberechtigten Liebhabereien zu überlassen, die nur geldfressend und ziellos sind. Wenn ich sehe, wie wohlgestellte Väter ihre Söhne zwingen, oft schon vor dem zwanzigsten Jahre ihr Brot zu verdienen, und wie das solchen Söhnen nur zu nützen scheint, so fällt der traurige, altbekannte Selbstvorwurf mir doppelt schwer, und ich hätte in meiner Arglosigkeit nie gedacht, daß eine solche Erfahrung mich jemals heimsuchen könnte. Freilich habe ich seinerzeit um Rat gefragt; als man aber den Wünschen des Kindes nicht zustimmte, hörte ich auf zu fragen und ließ es gewähren. Damit habe ich mich über meinen Stand erhoben, und indem ich mir einbildete, ein Genie in die Welt gesetzt zu haben, die Bescheidenheit verletzt und das Kind geschädigt, daß es sich vielleicht niemals erholen wird. Wo soll ich nun die Hilfe suchen?'"
GOTTFRIED KELLER: Der grüne Heinrich. Zürich : Buchclub Ex Libris, 1976, 777
"Als ich den Rhein überschritt und das Land betrat, war dieses gerade mit dem Getöse jener politischen Aktionen erfüllt, welche mit dem Umwandlungsprozeß eines fünfhundertjährigen Staatenbundes in einen Bundesstaat abschlossen, ein organischer Prozeß, der über seiner Energie und Mannigfaltigkeit die äußere Kleinheit des Landes vergessen ließ, da an sich nichts klein und nichts groß ist, und ein zellenreicher, summender und wohlbewaffneter Bienenkorb bedeutsamer ist, als ein mächtiger Sandhaufen."
GOTTFRIED KELLER: Der grüne Heinrich. Zürich : Buchclub Ex Libris, 1976, 777

"Aber Judith antwortete: 'Daraus wird nichts! Die Vorwürfe deines Gewissens sind ein ganz gesundes Brot für dich, und daran sollst du dein Leben lang kauen, ohne daß ich dir die Butter der Verzeihung darauf streiche! Dies könnte ich nicht einmal; denn was nicht zu ändern ist, ist eben deswegen auch nicht zu vergessen, dünkt mich, ich habe dies genugsam erfahren! Übrigens fühle ich leider nicht, daß du mir irgend widerwärtig geworden wärest; wozu wäre man da, wenn man nicht die Menschen, wie sie sind, lieb haben müßte?'"

GOTTFRIED KELLER: Der grüne Heinrich. Zürich : Buchclub Ex Libris, 1976, 400

Montag, September 21, 2020

"Jahre später hatte er in der verkohlten Ruine einer Bibliothek gestanden, wo geschwärzte Bücher in Wasserpfützen lagen. Umgekippte Regale. Irgendein Zorn auf die zu Tausenden in Reihen angeordneten Lügen. Er hob eines der Bücher auf und durchblätterte die schweren, aufgequollenen Seiten. Er hätte nicht gedacht, dass der Wert des geringsten Gegenstandes eine künftige Welt voraussetzte. Das überraschte ihn. Dass der Raum, den diese Gegenstände einnahmen, selbst schon eine Erwartung war. Er liess das Buch fallen, warf einen letzten Blick in die Runde und ging hinaus in das kalte graue Licht.
CORMAC McCARTHY: Die Strasse. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt Taschenbuch Verlag, Juni 2008. (rororo ; 24600), 166-167

Donnerstag, September 17, 2020

"Dichtung hilft uns auf verzweifelte Weise."
Anonymer Verfasser einer Inschrift auf der Mauer einer Gasse im Zentrum Palermos, Oktober 2018. Zit. nach: Genesis : die Geschichte des Universums in 7 Tagen / Guido Tonelli. München : C.H. Beck, [2020]

Sonntag, September 06, 2020

"[Die Fotografie] kann uns ... drei Wahrheiten anbieten - Geographie, Autobiographie und Metapher. Die Geographie ist ... manchmal langweilig, die Autobiographie häufig trivial und die Metapher ungenau. Aber zusammen genommen ... stärken sich die drei Darstellungsarten gegenseitig und bekräftigen, was wir alle zu erhalten suchen: die Liebe zum Leben."
ROBERT ADAMS, zit. nach: Eugene Atget / Gerry Badger. Deutsche Erstausgabe. Berlin : Phaidon Verlag, 2000. (Phaidon 55), Seite 14