Samstag, Juli 23, 2022

"Was stelle ich mir unter einer 'Textur der Erinnerung' vor? Sie ist eine Art Aura. Ob wir alte Gegenstände, Steine oder Geschirr aufbewahren, ob wir Gemälde in Auftrag geben und an die Wand hängen, im Glauben, sie werden bleibend sein; ob wir akribisch jeden Zettel aufheben, auf dem wir irgendetwas notiert haben (so wie ich), oder ob wir naiv an die endlosen Möglichkeiten der Fotografie und des digitalen Gedächtnisses glauben - es ist und bleibt ein unmögliches Unterfangen, die Vergangenheit zu konservieren. Und dennoch zeigen uns die Fotografien Dayanita Singhs: Wenn wir all die Dinge, mit denen wir versuchen, das Vergangene zu bewahren, die alten Kunstwerke, Aufzeichnungen und Gegenstände, wenn wir also versuchen, diese im Gedächtnis zu fixieren, und zwar so, wie sie uns heute erscheinen - dann merken wir, wie existenziell, ja geradezu heilig diese unsere vergeblichen Versuche sind. Unser Gedächtnis bietet uns kaum je etwas, woran wir uns festhalten können. Aber vielleicht sind es auch gar nicht die Details unserer Erinnerungen, die zu uns sprechen, sondern die Aura der Erinnerung, die in den Dingen steckt, mit denen wir uns umgeben. Unweigerlich schürt diese Aura in uns eine Art von Melancholie - wie wenn wir griechische und römische Ruinen und verlassene Gebäude sehen."
Aus: ORHAN PAMUK: Siehst du den Geruch der Vergangenheit. In: Das Magazin, 2022, No 27 (23. Juli 2022), 23-27

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