Montag, Januar 09, 2012

"Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Allerdings ist man dem näher als anderen. Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt. Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Als das war, von dem wir jetzt sagen, dass es gewesen sei, haben wir nicht gewusst, dass es ist. Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.
In der Vergangenheit, die alle zusammen haben, kann man herumgehen wie in einem Museum. Die eigene Vergangenheit ist nicht begehbar. Wir haben von ihr nur das, was sie von selbst preisgibt. Auch wenn sie nicht deutlicher wird als ein Traum. Je mehr wir's dabei beliessen, desto mehr wäre Vergangenheit auf ihre Weise gegenwärtig. Träume zerstören wir auch, wenn wir sie nach ihrer Bedeutung fragen.
[...]
Die, die sich am sehnsüchtigsten um die Vergangenheit bemühen, sind am meisten in Gefahr, das, was sie selber hervorgebracht haben, für das zu halten, was sie gesucht haben. Wir können nicht zugeben, dass es nichts gibt als die Gegenwart. Denn sie gibt es ja auch so gut wie nicht. Und die Zukunft ist eine grammatikalische Fiktion.
[...]
Öfter ist es ein Mangel an Rechtfertigung, der einen ins Vergangene weist. Man sucht Gründe, die es rechtfertigen könnten, dass man ist, wie man ist.
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Dass Menschen mit unausgeglichenen Vergangenheiten zusammenleben könnten, als die Verschiedenen, sie sie auch durch ihre Vergangenheiten sind, ist Wunschdenken."
Aus: MARTIN WALSER: Ein springender Brunnen.

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