Dienstag, Januar 03, 2012

"Manchmal gehe ich in der Nacht spazieren. [...] Was ich will, ist die rabenschwarze Nacht als Zustand, als etwas, in das man eintauchen kann, in dem man sich auflösen kann; was ich will, ist, dass die Dunkelheit frei durch meine Augen herein strömt und sich der Körper ausdehnt und nicht länger unterscheiden lässt, nicht mehr so wichtig ist, wie er es für mich mitunter sein kann, das muss ich zugeben, dass ich oft monoman und hypochondrisch in mich hineinhorche. Was ich will, ist, dass sich die Grenze zwischen Körper und Nicht-Körper eine Spur auflöst, es vielleicht zu einer kleinen Osmose kommt, wo das eine aufhört und das andere anfängt und alles verwischt. Genau das will ich, wenn ich es leid bin, ich selbst zu sein, [...]. - Ein Stück tiefer im Wald spüre ich den Druck der Bäume von beiden Seiten, es werden immer mehr, das Terrain steigt an, ich lasse die Füsse den Steinen und Wurzeln des Pfades folgen, und sie schaffen es spielend, aber ich schlucke und denke, was fehlt mir eigentlich? Ich bin einundfünfzig. Der Raum um mich herum ist nicht länger unendlich. Das ist die Wahrheit. Die Ewigkeitsperspektive ist zusammengebrochen, und dann kann der Überdruss plötzlich wie ein böser Wind über einen hinwegfegen und alles, was man will, zerrinnen lassen. Dann heisst es, am Tag schnell und nachts ins Dunkle laufen, [...]. Ich mache die Augen auf, starre in die Dunkelheit und schliesse sie sofort wieder, es spielt keine Rolle, es macht keinen Unterschied. Ich sehe gleich viel oder gleich wenig. [...] Ich weiss nicht, warum es mir so geht, weiss nicht, ob das normal ist, ob es auch anderen Menschen so geht, aber offen gestanden kriege ich es nicht geregelt. Dass die Welt nicht eins ist, dass die Welt nicht ganz ist, dass ich mich vielleicht entscheiden muss, das alles hinter mir zu lassen, und wenn ich irgendwo hinkommen will, muss ich zugleich verlassen, was meins ist, was ich kann und was ich kenne, muss die verlassen, die auf den Treppen vor meinem Haus sitzen und Kaffee trinken und über alles reden, was sie können, muss für immer von ihnen Abschied nehmen. Und wenn es das ist, was ich tun muss, um mich weiterzuentwickeln, wie es heisst, was ist dann der Sinn des Ganzen?"

Aus: PER PETTERSON: Der Mond über Porten : "ich schwebe frei durch die Dunkelheit - ein Versuch über die Sehnsucht nach dem Nichts". In: NZZ, 18.-19.07.2009, B1-B2

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