Mittwoch, Dezember 01, 2010

"Eigentlich war fast jeder Tag gleich. Ich führte ein kleines Tagebuch, doch wenn ich einmal zwei, drei Tage die Eintragungen vergessen hatte, konnte ich schon nicht mehr auseinanderhalten, was an welchem Tag geschehen war. Wenn gestern vorgestern wäre, würde es mir nicht auffallen. Manchmal frage ich mich, was das für ein Leben ist. Ich empfinde es nicht als leer. Ich wundere mich einfach nur. Darüber, dass sich gestern und vorgestern nicht unterscheiden lassen. Darüber, dass ich Teil eines solchen Lebens bin und davon verschluckt werde. Darüber, dass meine eigenen Fussspuren vom Wind fortgeweht werden, ehe ich Zeit habe, sie anzuschauen."
HARUKI MURAKAMI: Schlaf. Köln: Dumont 2010, 19

"Ich setzte mich wieder aufs Sofa und las weiter 'Anna Karenina'. Erst bei der jetzigen zweiten Lektüre fiel mir auf, dass ich eigentlich fast nichts vom Inhalt des Buches behalten hatte. An die meisten der auftretenden Personen und die meisten Szenen erinnerte ich mich nicht. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ein mir völlig unbekanntes Buch lesen. Seltsam, dachte ich. Ich war beim Lesen sicherlich sehr berührt gewesen, und doch war nichts davon geblieben. Jede Erinnerung an Schauder oder Erregung, die ich damals empfunden haben musst, war fein säuberlich, ohne dass ich es bemerkt hätte, verlöscht.
Was für eine Bedeutung besassen denn überhaupt jene unzähligen Stunden, die ich damals mit Lesen verbracht hatte?
Ich unterbrach meine Lektüre und sann eine Weile darüber nach. Doch ich fand keine Antwort, und kurz darauf hatte ich auch schon vergessen, worüber ich eigentlich nachdachte. Ich merkte nur plötzlich, dass ich geistesabwesend auf den Baum vorm Fenster blickte. Ich schüttelte den Kopf und las weiter."
HARUKI MURAKAMI: Schlaf. Köln: Dumont 2010, 39

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