Mittwoch, Juli 23, 2025

"Ich lerne sehen. Ich weiss nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiss nicht, was dort geschieht."
RAINER MARIA RILKE: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag, 1977. (Bibliothek Suhrkamp ; Band 343), 9
"Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, dass ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, dass ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben."
Ebd., 9

Samstag, Juli 19, 2025

"'Wenn du ein Buch liest, ein richtiges Buch liest, dann findest du dich im Buch wieder. Vielleicht nur in einem Satz oder zwei, aber du findest ein Stück von dir dort, und du hältst inne und sagst dir: Das bin ich, das ist genau das, was mir widerfahren ist. Es ist ganz und gar unmöglich, dass du liest und dich nicht wiederfindest.'"
ILEANA IVASCU (Grossmutter und Tiktok-Star aus Rumänien) in: Michael Schilliger: Das Märchen von der Grossmutter und dem Algorithmus, NZZ, 19.07.2025, 41

Freitag, Juli 18, 2025

"Die Gewissheit, dass ich vieles verlieren kann, einen Vater, eine Mutter, eine normale Kindheit, dass nichts sicher und beständig ist, dass aber Bücher trotz allem bleiben, dass mir niemand diese Geschichten, diese Welten wegnehmen kann, in die ich zu flüchten vermag, beruhigte mich und machte mich unverwundbar. Ich wusste: Egal, wie viel Scheisse da noch auf mich zukommt, dieses bisschen Glück kann mir niemand nehmen."
CAROLINE WAHL: 22 Bahnen : Roman. Köln, Dumont, 2023, 105-106

Dienstag, Juli 08, 2025

"Sie geht hinein und ruft in der Diele nach Bailey, blickt in den Spiegel und sieht, wie sie wirklich ist, das fahle rotfleckige Gesicht, das sich zu hohlen Augen neigt, die Augen stellen die Frage und lachen fast darüber: Spieglein, Spieglein an der Wand. Einen Augenblick lang sieht sie die Vergangenheit im offenen Blick des Spiegels, als enthielte der Spiegel alles, was er je gesehen hat, sie sieht sich davor schlafwandeln, sieht das hirnlose Kommen und Gehen jahraus und jahrein, sieht, wie sie die Kinder zum Wagen bringt, sie stehen vor ihr in jedem Alter, und Mark hat wieder einen Schuh verloren, Molly weigert sich, einen Mantel zu tragen, Larry fragt, ob sie ihre Schulranzen haben, und sie sieht das Glück, das in dem Stumpfsinn steckt, wie es in dem alltäglichen Hin und Her lebt, als wäre das Glück etwas, was nicht gesehen werden soll. als wäre es ein Ton, den man erst hören kann, wenn er aus der Vergangenheit schallt, sieht ihre zahllosen Spiegelbilder in eitler Zufriedenheit, wo doch Larry schon ungeduldig im Wagen wartet, er steht in der Diele und zieht den Regenmantel aus, er steigt aus seinen grünen Stiefeln und schreit dabei nach seinen Schlappen."
PAUL LYNCH: Das Lied des Propheten : Roman. Stuttgart : Klett-Cotta, 2024, 49-5
"Sie sieht vor sich das Bild einer zerschlagenen Ordnung, wie die Welt in ein dunkles, fremdartiges Meer abdreht. Sie hält ihn in den Armen, versucht, für ihren Sohn flüsternd die alte Welt der Gesetze, die zerbrochen zu seinen Füssen liegt, wiederherzustellen, denn was ist die Welt für ein Kind, wenn der Vater ohne ein Wort verschwinden kann?"
Ebd., 5
"Sie schaut zum Himmel, sieht zu, wie der Regen durch den Raum fällt, und auf dem verrotteten Hof ist nichts zu sehen, nur die Welt, wie sie auf sich selbst beharrt, der gemächlich bröckelnde Zement dem aufsteigenden Saft darunter weicht, und wenn der Hof einmal Vergangenheit ist, bleibt noch das Beharren der Welt, einer Welt, die darauf beharrt, kein Traum zu sein, und dennoch gibt es für den Betrachter kein Entrinnen aus dem Traum und dem Preis des Lebens, der Leiden ist, und sie sieht ihre Kinder in eine Welt von Hingabe und Liebe geboren und sie sieht sie verdammt zu einer Welt des Terrors, sie wünscht, dass es mit einer solchen Welt zu Ende geht, wünscht der Welt ihre Zerstörung, und sie blickt auf ihren kleinen Sohn, dies Kind, das unschuldig bleibt, und sie sieht, wie sie mit sich selbst in Konflikt geraten ist, und ist bestürzt, sieht, dass aus Terror Mitleid entsteht und aus Mitleid Liebe, und mit Liebe kann die Welt wieder errettet werden, und sie kann sehen, dass die Welt doch nicht endet, dass die Vorstellung, die Welt ende durch ein plötzliches Ereignis zu ihren Lebzeiten, nur selbstgefällig ist, dass das eigene Leben endet und nur das, dass das, was die Propheten singen, nur das Lied ist, das in allen Zeiten gesungen wird, die Zukunft des Schwerts, die Welt von Feuer verzehrt, die Sonne um Mittag in die Erde gesunken und die Welt in Dunkelheit gehüllt, der Zorn eines Gottes im Mund eines Propheten inkarniert, der gegen die Gottlosigkeit wettert, die vertrieben werden wird, und der Prophet singt nicht vom Ende der Welt, sondern davon, was getan worden ist und was getan werden wird und was manchen angetan wird, aber nicht anderen, dass die Welt immer wieder aufs Neue an einem Ort endet, aber nicht an einem anderen, und dass das Ende der Welt immer ein lokales Ereignis ist, es kommt in dein Land und besucht deine Stadt und klopft an die Tür deines Hauses und wird für andere nur eine ferne Warnung, ein kurzer Bericht in den Nachrichten, ein Echo von Ereignissen, das in die Folklore eingegangen ist, Bens Lachen hinter ihr, sie dreht sich um und sieht, wie Molly ihn auf ihrem Schoss kitzelt, und sie betrachtet ihren Sohn und sieht in seinen Augen eine strahlende Intensität, die von der Welt vor dem Sündenfall kündet, und sie geht weinend auf die Knie und nimmt Mollys Hand."
Ebd., 305-306 

Mittwoch, Juli 02, 2025

"Sie ist gestorben. Ich bin immens traurig. Seit heute Morgen weine ich. Ich weiss nicht, was hier gerade passiert. Das ist es. Die Zeitrechnung hört auf, ja. Man ist nicht auf den Schmerz vorbereitet. Wunsch, sie noch einmal zu sehen. Der Moment ist gekommen, ohne dass ich ihn mir vorgestellt, ihn vorhergesehen hätte. Sie war mir verrückt lieber als tot.
Mir ist übel, ich habe Kopfschmerzen. Ich hatte so viel Zeit, mich mit ihr zu versöhnen, und habe nicht genug dafür getan. Gestern kein Gedanke daran, dass ich sie vielleicht zum letzten Mal sehe."
ANNIE ERNAUX: Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus : Roman. Berlin : Suhrkamp Verlag, 2025. (Bibliothek Suhrkamp), 95
"Ich habe akzeptiert, dass sie wieder zu einem Kind geworden war und nie gross werden würde. Zum ersten Mal verstehe ich den Vers von Paul Éluard, "die Zeit läuft über".
Ebd., 98
"Ich habe überall in der Welt nach der Liebe meiner Mutter gesucht. Was ich hier schreibe, ist keine Literatur. Ich sehe den Unterschied zu den Büchern, die ich bisher geschrieben habe, und doch auch wieder nicht, denn ich kann keinen Text schreiben, der nicht genau das hier ist, dieses Bedüprfnis zu retten und zu verstehen, vor allem aber zu retten."
Ebd., 99
"In den ersten Tagen habe ich die ganze Zeit geweint, hemmungslos. Jetzt überkommt es mich plötzlich, bei einem Detail, beim Anblick eines Gegenstands. [...] Draussen ist der Schmerz schlimmer als drinnen. Als würde ich draussen nach ihr suchen. Draussen, das ist die Welt. Vorher war sie irgendwo in dieser Welt."
Ebd., 104