Dienstag, Juli 08, 2025

"Sie geht hinein und ruft in der Diele nach Bailey, blickt in den Spiegel und sieht, wie sie wirklich ist, das fahle rotfleckige Gesicht, das sich zu hohlen Augen neigt, die Augen stellen die Frage und lachen fast darüber: Spieglein, Spieglein an der Wand. Einen Augenblick lang sieht sie die Vergangenheit im offenen Blick des Spiegels, als enthielte der Spiegel alles, was er je gesehen hat, sie sieht sich davor schlafwandeln, sieht das hirnlose Kommen und Gehen jahraus und jahrein, sieht, wie sie die Kinder zum Wagen bringt, sie stehen vor ihr in jedem Alter, und Mark hat wieder einen Schuh verloren, Molly weigert sich, einen Mantel zu tragen, Larry fragt, ob sie ihre Schulranzen haben, und sie sieht das Glück, das in dem Stumpfsinn steckt, wie es in dem alltäglichen Hin und Her lebt, als wäre das Glück etwas, was nicht gesehen werden soll. als wäre es ein Ton, den man erst hören kann, wenn er aus der Vergangenheit schallt, sieht ihre zahllosen Spiegelbilder in eitler Zufriedenheit, wo doch Larry schon ungeduldig im Wagen wartet, er steht in der Diele und zieht den Regenmantel aus, er steigt aus seinen grünen Stiefeln und schreit dabei nach seinen Schlappen."
PAUL LYNCH: Das Lied des Propheten : Roman. Stuttgart : Klett-Cotta, 2024, 49-5
"Sie sieht vor sich das Bild einer zerschlagenen Ordnung, wie die Welt in ein dunkles, fremdartiges Meer abdreht. Sie hält ihn in den Armen, versucht, für ihren Sohn flüsternd die alte Welt der Gesetze, die zerbrochen zu seinen Füssen liegt, wiederherzustellen, denn was ist die Welt für ein Kind, wenn der Vater ohne ein Wort verschwinden kann?"
Ebd., 5
"Sie schaut zum Himmel, sieht zu, wie der Regen durch den Raum fällt, und auf dem verrotteten Hof ist nichts zu sehen, nur die Welt, wie sie auf sich selbst beharrt, der gemächlich bröckelnde Zement dem aufsteigenden Saft darunter weicht, und wenn der Hof einmal Vergangenheit ist, bleibt noch das Beharren der Welt, einer Welt, die darauf beharrt, kein Traum zu sein, und dennoch gibt es für den Betrachter kein Entrinnen aus dem Traum und dem Preis des Lebens, der Leiden ist, und sie sieht ihre Kinder in eine Welt von Hingabe und Liebe geboren und sie sieht sie verdammt zu einer Welt des Terrors, sie wünscht, dass es mit einer solchen Welt zu Ende geht, wünscht der Welt ihre Zerstörung, und sie blickt auf ihren kleinen Sohn, dies Kind, das unschuldig bleibt, und sie sieht, wie sie mit sich selbst in Konflikt geraten ist, und ist bestürzt, sieht, dass aus Terror Mitleid entsteht und aus Mitleid Liebe, und mit Liebe kann die Welt wieder errettet werden, und sie kann sehen, dass die Welt doch nicht endet, dass die Vorstellung, die Welt ende durch ein plötzliches Ereignis zu ihren Lebzeiten, nur selbstgefällig ist, dass das eigene Leben endet und nur das, dass das, was die Propheten singen, nur das Lied ist, das in allen Zeiten gesungen wird, die Zukunft des Schwerts, die Welt von Feuer verzehrt, die Sonne um Mittag in die Erde gesunken und die Welt in Dunkelheit gehüllt, der Zorn eines Gottes im Mund eines Propheten inkarniert, der gegen die Gottlosigkeit wettert, die vertrieben werden wird, und der Prophet singt nicht vom Ende der Welt, sondern davon, was getan worden ist und was getan werden wird und was manchen angetan wird, aber nicht anderen, dass die Welt immer wieder aufs Neue an einem Ort endet, aber nicht an einem anderen, und dass das Ende der Welt immer ein lokales Ereignis ist, es kommt in dein Land und besucht deine Stadt und klopft an die Tür deines Hauses und wird für andere nur eine ferne Warnung, ein kurzer Bericht in den Nachrichten, ein Echo von Ereignissen, das in die Folklore eingegangen ist, Bens Lachen hinter ihr, sie dreht sich um und sieht, wie Molly ihn auf ihrem Schoss kitzelt, und sie betrachtet ihren Sohn und sieht in seinen Augen eine strahlende Intensität, die von der Welt vor dem Sündenfall kündet, und sie geht weinend auf die Knie und nimmt Mollys Hand."
Ebd., 305-306 

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