Montag, September 22, 2025

"Doch die Wörter waren hergezwungen, was sie sagten, war leer, und sie gaben nichts von dem eindringlilchen Geschehen wieder, das er erlebt hatte. Er schob das Heft zur Seite. Er hatte nur noch ein Bedürfnis: hinauszugehen in eine ganz gewöhnliche Welt. Keine aus Strahlen und keine aus Text. Nur einfach Strasse, Fussgänger, Autos, Bäume am Rand des Parks. Alles gewohnt und wie es für andere Menschen auch war, Alltagswelt. Heute war sie grau und regnerisch, kühl, windig, roch nach Meer."
CHRISTIAN HALLER: Sich lichtende Nebel : Novelle. München : Luchterhand, 2023, 9
"Obwohl das Leben seinen gewohnten Gang nahm, blieb unter den Schichten des Alltags die Gewissheit bestehen, in einem äusserst eingeschränkten Wahrnehmungsraum zu leben. An einem späten Vormittag, als Helstedt neben der Treppe zum Hinterhof sass und einen Kaffee gegen die mittägliche Müdigkeit trank, auf das Stück Rasen, das Gerätehaus im Schatten der Linde sah, kam ihm der Gedanke, wenn er während seiner Erlebnisse für einen Moment aus dem gewohnten Sehraum hinaus gesehen habe, so könnte er doch in Gedanken versuchen, von aussen, durch eine Lücke, in den gewohnten, vereinfachenden Wahrnehmungsraum hineinzusehen. Es brauchte etwas Anstrengung, diese Umkehr der Blickrichtung vorzunehmen. Doch er wollte es versuchen, konzentrierte sich, imaginierte sich in eine Leere, aus der heraus er jetzt in den Hinterhof blickte: Was er dabei sah, war das Stück Rasen zwischen den Blumenbeeten, die Äste und Lindenblätter, in denen Licht und Schatten wechselten, die gegenüberliegende Hauswand, leuchtend im Nachmittagslicht. Selbst das Fahrrad, das an der Wand des Geräteschuppens schon seit Tagen lehnte, war von grossartiger Selbstverständlichkeit."
Ebd., 122-123 

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