Montag, November 07, 2022

"Was ich behielt lag weniger auf dem Gebiet der allgemeinen Bildung als auf dem Gebiet der Empfindungen, mein Wissen setzte sich zusammen aus bildmässigen Erfahrungen, aus Erinnerungen an Laute, Stimmen, Geräusche, Bewegungen, Gesten, Rhythmen, aus Abgetastetem und Gerochenem, aus Einblicken in Räume, Strassen, Höfe, Gärten, Häfen, Arbeitsplätze, aus Schwingungen in der Luft, aus Spielen des Lichts und des Schattens, aus Regungen von Augen, Mündern und Händen."
PETER WEISS: Abschied von den Eltern. Erste Auflage. Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag, 1980. (Bibliothek Suhrkamp ; 700), 69
 "Das Vergangene stieg auf wie eine Atemnot, wie der Druck einer Zwangsjacke, das Vergangene legte sich in tintigen, langsam sickernden Stunden um mich, und dann konnte es plötzlich zurücktreten und nichtig werden und einen kurzen Blick in die Freihet zulassen. Da sah ich meine Eltern voller Mitgefühl und Mitleid. Sie hatten uns alles gegeben, was sie uns geben konnten, sie hatten uns Kleider und Nahrung und ein gepflegtes Heim gegeben, sie hatten uns ihre Sicherheit und ihre Ordnung gegeben, und sie verstanden es nicht, dass wir ihnen nicht dafür dankten. Sie konnten es nie verstehen, dass wir ihnen entglitten. Aus der dumpfen Ungewissheit, Fehler begangen zu haben, kauften sie sich mit teuren Geschenken los, Geburtstage und allgemeine Festtage waren Abzahltage ihrer unbewussten Schuld. Und immer waren die Geschenke falsch, soviel wir auch bekamen, immer standen wir da mit unzufriedenen, nach Mehr fragenden Blicken. Das was wir haben wollten bekamen wir nicht, und wir wussten nicht, was wir haben wollten. So standen wir voreinander, wir Kinder unzufrieden, und die Eltern beleidigt, und unfähig waren wir, uns voreinander zu erklären. Und die Versperrtheit habe ich in mir übernommen. In mir übernommen habe ich das Missverständnis meiner Eltern. Die Befangenheit meiner Eltern wurde zu meiner eigenen Befangenheit. Ihre Stimmen leben in mir."
Ebd., 94-95
"Jetzt musste ich mich ganz aus dem Alten losreissen, oder zurücksinken."
Ebd., 129
"Unendlich langsam wachsen die Veränderungen heran, man merkt sie kaum. Manchmal empfand ich einen kurzen Stoss, und dann glaubte ich, etwas sei anders geworden, und dann schlug das Grundwasser wieder über mir zusammen und verbarg das Gewonnene im Schlamm."
Ebd., 137
"Da hatte ich mich selbst, ganz für mich allein, und niemand beobachtete mich, und niemand hemmte meine Schritte, ich konnte mit meinem Tag machen was ich wollte, und das war das Unmögliche, mit mir selbst fertig zu werden, mir selbst ein Dasein zu schaffen. Da stand ich, in dieser Stadt Prag, und sollte mich beweisen, ..."
Ebd., 142
"Ich verlor das manische Bedürfnis, tätig zu sein, und konnte am Seeufer in der Sonne liegen, oder im trockenen Gras einer Waldlichtung, ohne dass mich das schlechte Gewissen plagte. Und wenn ich etwas zeichnen oder niederschreiben wollte, so konnte ich vorher lange warten und meditieren, und das Zeichnen und Schreiben war nicht so wichtig, ich konnte es auch bleiben lassen, es war wichtiger, dass ich da war, dass ich lebte, und vor dem Arbeiten musste ich erst das Erleben lernen.

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite