Samstag, April 11, 2015

"Misst sich ein gelungenes Leben am Erfolg, an den Taten, den messbaren Resultaten, am Wert des Erbes, das wir hinterlassen? Oder verhält es sich nicht so wie mit der Literatur, dass nämlich da Wesentliche zwischen den Zeilen steht, jenseits dessen, was man in einer Biografie darstellen kann? Sind die Momente des Glücks nicht jene, in denen wir die Taten und uns selbst vergessen und gegenwärtig werden, sind nicht die Momente, in denen wir ganz im Moment sind, die wahrhaft glücklichen.
Wer dies vertritt, stellt sich in Feindschaft zur bürgerlichen Gesellschaft und der ihr beiwohnenden Marktwirtschaft. Die Gegenwart ist dieser Gesellschaft nichts, alles ist ihr die Zukunft. Das Kapital bringt Zins durch Zeit, der Erfolg misst sich am Wachstum. In der bürgerlichen Gesellschaft ist alles in zeitlicher Entwicklung, alles in einem Fortschritt begriffen. Gleichzeitig darf sich nichts und niemand verwandeln. Das Glück ist definiert. Die Verhältnisse sind definiert, [...].
Weil alles für ihn in der Zukunft liegt, und weil diese alles andere als gewiss ist, fühlt sich der Bürger beständig in seinem Sein bedroht. Deshalb kämpft er um die Sicherheit seiner Verhältnisse. Ja, Sicherheit ist der bürgerliche Wert an sich. Der Bürger braucht Insignien, er braucht die Ehe, er braucht Besitz, einen Beruf, er braucht Wissen, er braucht Kultur, [...]. Er braucht diese unwandelbaren Werte, die Stabilität der Verhältnisse, und natürlich macht er sich dadurch angreifbar, denn er weiss, dass nichts bleibt, wie es war."
LUKAS BÄRFUSS: Metamorphosen : Max Frischs früher Roman "Die Schwierigen". In: Ders.: Stil und Moral : Essays. Göttingen : Wallstein, 2015, 100-101


Bild: Hugo Keller
Fribourg - Hauterive, 03.04.2015

"Das Leben lässt sich nicht kontrollieren, und wer es am meisten versucht, der wird am tiefsten fallen."
LUKAS BÄRFUSS: Metamorphosen : Max Frischs früher Roman "Die Schwierigen". In: Ders.: Stil und Moral : Essays. Göttingen : Wallstein, 2015, 107

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