Mittwoch, Mai 14, 2014

"Die Gedanken schweiften von den Buchseiten ab, und immer häufiger ertappte er sich dabei, wie er dumpf vor sich hin ins Nichts stierte; es war, als würde sein Kopf nach und nach von allem Wissen geleert und sein Wille aller Kraft beraubt. Manchmal fürchtete er, nur noch vor sich hin zu vegetieren, und er sehnte sich nach etwas, das ihn durchbohrte, sei es auch ein Schmerz, damit er sich endlich wieder lebendig fühlte.
Er hatte jene Phase in seinem Leben erreicht, in der sich ihm mit wachsender Dringlichkeit eine Frage von solch überwältigender Einfachheit stellte, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Er begann sich nämlich zu fragen, ob sein Leben lebenswert sei, ob es das je gewesen war. Alle Menschen, vermutete er, stellten sich zu dem ein oder anderen Zeitpunkt gewiss diese Frage, doch hätte er gern gewusst, ob sie sich ihnen mit solch unpersönlicher Wucht aufdrängte wie ihm. Die Frage ging mit einer Trauer einher, einer unbestimmten Trauer, die (so nahm er an) nur wenig mit ihm selbst oder seinem besonderen Los zu tun hatte; ja, er war sich nicht einmal sicher, ob sie sich ihm aus dem unmittelbar gegebenen, offensichtlichen Anlass stellte, also den kürzlichen Veränderungen in seinem eigenen Leben. Sie rührte, glaubte er, eher aus der Anhäufung seiner Jahre her, aus der Verdichtung von Zufall und Umstand sowie aus dem, was er darunter zu verstehen gelernt hatte. Er fand ein ebenso grimmiges wie ironisches Vergnügen an der Möglichkeit, ihn habe jenes bisschen Bildung, das er sich erworben haben mochte, zu folgender Einsicht geführt: Letzten Endes war alles, selbst das Studium, das ihm dieses Wissen ermöglichte, sinnlos und vergeblich und gerann zu einem unabänderlichen Nichts."
JOHN WILLIAMS: Stoner. 6. Aufl. München : Deutscher Taschenbuch Verlag, 2014, 226-227

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