Sonntag, August 31, 2025

"Eine Giesskanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund an der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäss meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgend einem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen. Ja, es kann auch die bestimmte Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes sein, der die unbegreifliche Auserwählung zu teil wird, mit jener sanft oder jäh steigender Flut göttlichen Gefühles bis an den Rand gefüllt zu werden."
HUGO VON HOFMANNSTHAL: Der Brief des Lord Chandos. Hrsg. von Fred Lönker. Ditzingen : Reclam, 2019. (Reclams Universal-Bibliothek ; Nr. 19503), 15 
"Es erscheint mir alles, alles, was es giebt, alles, dessen ich mich entsinne, alles, was meine verworrensten Gedanken berühren, etwas zu sein. [...] und ich fühle ein entzückendes, schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich, und es giebt unter den gegeneinander spielenden Materien keine, in die ich nicht hinüberzufliessen vermöchte. Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffren, die mir alles aufschliessen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken."
Ebd., 18 
"Was wir lieben, muss von uns verschieden sein. Die Liebe muss die Gemeinsamkeiten zwischen den Verschiedenen erst herstellen, das ist ihre eigentliche Aufgabe, und anders wäre sie schal."
MARTIN R. DEAN: In den Echokammern des Fremden : Essays. Zürich : Atlantis, 2025, 149
"Noch einmal erlebt man [in Almodóvars Film Julieta] mit, dass Liebe wehtun kann, wenn ihr Schicksalhaftes hervortritt. Mit jeder Einstellung führt der Film eine Liebe vor, deren Intensität über unsere Selbstbefreiungs- und Optimierungsstrategien hinausgeht. Sie verbindet nicht nur das Paar, sondern auch die Eltern mit ihrer Tochter. Für Almadóvars Liebesgeschichte sind alle klugen Ratgeber verloren."
Ebd., 150
" Die Liebe zwischen Eltern und Kindern ist eine ebenso intensive Herausforderung wie jene zwischen Partner*innen, auch wenn sie als selbstverständlich und naturgegeben erscheint."
Ebd., 153
"In den siebziger Jahren erhielt ich eine Super-8-Kamera geschenkt. Ich nahm sie mit auf jene Ausflüge, die Spektakuläres versprachen.Was diese Filme dann aber zeigten, war gerade das Gewöhnlichste: einen Wasserfall, eine Kuhweide, später dann meine Freundin auf dem Fahrrad. [...] Während wir glaubten, die kleinen, aufregenden Abweichungen vom gewöhnlichen Leben aufzuzeichnen, filmten wir in Wahrheit unseren banalen Alltag. Wir filmten, um die Ereignisse des Lebens, das uns schon damals zu schnell zu vergehen schien, festzuhalten."
Ebd., 168
 "Jetzt, wo unsere bürgerliche Epoche an ein Ende kommt, ist es keine schlechte Zeit für alte Fotos und Super-8-Filme. Auch das dürften Annie Ernaux' Film [Die Super-8-Jahre] und die Super-8-Filme zeigen: Die siebziger Jahre waren, trotz der grossen Verwerfungen wie Watergate, Ölschock oder Vietnamkrieg, für Europa eine friedliche und prosperierende Zeit. Wir glaubten an den Aufbruch in eine bessere Welt und vertrauten darauf, dass die Weltgemeinschaft auf dem Weg zu mehr Frieden war, dass der Fortschritt unseren Alltag erleichtern und dass die Technik die Lebensqualität heben würde.
Fünfzig Jahre nach der Zeit in Annie Ernaux' Film wird der Ukraine-Krieg zu der Zäsur, die die Patina auf unseren Super-8-Filmen vollends hervortreten lässt. Denn die Bildarchive von heute, die Schnappschüsse auf Instagram, Twitter und Facebook, sind nicht mehr privat. Das Private ist in einer Bubble verschwunden. Tausend Bilder auf dem iPhone sind so gut wie keins, denn sie fügen sich zu keiner Erzählung mehr von  dem, was Ich ist oder meine Familie."
Ebd., 171

Samstag, August 16, 2025

"Der Krieg kommt endlich selber am Kriege um; seine Vervollkommnung wird seine Vernichtung, weil er sich durch seine Verstärkung abkürzt. [...] Es muß zuletzt nicht wie jetzt statt siebenjähriger siebentägige, sondern statt dreißigjähriger dreißigstündige Kriege geben. Der Mechanikus Henri in Paris erfand – approbierte – Flinten, welche nach einer Ladung 14 Schüsse hintereinander geben; – welche Zeit wird hier dem Morden erspart und dem Leben genommen! – Und wer bürgt unter den unermeßlichen Entwicklungen der Chemie und Physik dagegen, daß nicht endlich eine Mordmaschine erfunden werde, welche wie eine Mine mit einem Schusse eine Schlacht liefert und schließt, so daß der Feind nur den zweiten tut, und so gegen Abend der Feldzug abgetan ist?"
JEAN PAUL: Dämmerungen in Deutschland. 1809
Siehe dazu PETER BICHSEL: Auf der Suche nach Henri im Internet. In: Über das Wetter reden : Kolumnen 2012-2015. Berlin : Suhrkamp, 2016. (suhrkamp taschenbuch ; 4676), 11-14 

Samstag, August 09, 2025

"Auch er [Vater] hatte dieses 'lose Ende der Seele', eine unstillbare Sehnsucht, die keine Entsprechung im Alltag hat, ein Bric-à-Brac nicht genau zu bestimmender Eigenschaften, die nach etwas strebten, das 'man selbst war' und nie sein würde."
CHRISTIAN HALLER: Flusstrilogie. München : btb, 2025, 470