Montag, Februar 10, 2025

"Die Geschichte von Hagar und Ismael kam mir heute Morgen beim Beten in den Sinn, und ich fand in ihr grosse Zuversicht. Die Geschichte lehrt, dass es nicht nur der Vater eines Kindes ist, der für es sorgt und der die Mutter beschützt, sondern da steht, dass, selbst wenn die Mutter keine Möglichkeit mehr sieht, für das Kind oder für sich selbst zu sorgen, Sorge getragen werden wird. Insofern ist es eine trostreiche Geschichte. So ist es im Leben - wir schicken unsere Kinder in die Wüste. Manche schon am Tag ihrer Geburt, scheint es, so wenig Hilfe lassen wir ihnen angedeihen. Manche scheinen selbst eine Art Wüste zu sein. Aber gewiss gibt es auch dort Engel und Quellen. Selbst die Wüste, Behausung der Schakale, ist des Herrn. Das darf ich nicht vergessen."
MARILYNNE  ROBINSON: Gilead : Roman. Frankfurt am Main : Fischer Taschenbuch, 2024, 154-155
"Es gibt für die Probleme, vor denen ich stehe, keine irdische Lösung. Aber ich kann die Probleme, wie ich es offenbar getan habe, verschlimmern,  indem ich dabei verweile."
Ebd., 163-164
"[...] weil aus meiner Sicht jeder Vater, besonders der betagte, letztlich sein Kind in die Wüste schicken und auf die göttliche Vorsehung vertrauen muss. Es erscheint geradezu grausam, dass die eine Generation die andere hervorbringt, wo doch Eltern ihren Kindern so wenig garantieren können, so wenig Schutz, selbst unter günstigsten Voraussetzungen. Das Kind seinem Schicksal zu überlassen verlangt tiefen Glauben, ein Vertrauen darauf, dass Gott die elterliche Liebe belohnen wird, indem er tatsächlich in der Wüste Engel bereitstellt."
Ebd., 167-168
"Letztlich sind wir in jedem menschlichen Belang füreinander ein Geheimnis, und ich glaube wahrhaftig, dass in jedem von uns eine eigene Sprache schlummert, ein eigener Schönheitssinn und ein eigenes Recht. Jeder von uns ist seine eigene kleine, auf den Trümmern  unzähliger vorausgehender Zivilisationen errichtete Zivilisation mit eigenen Vorstellungen davon, was schön sei und was annehmbar - denen wir, möchte ich gleich anfügen, selten gerecht werden und nach denen zu leben ein ewiges Ringen ist."
Ebd., 255
"Und der alte Boughton, könnte er sich nur aus seinem Sessel erheben, aus seiner Hinfälligkeit und Griesgrämigkeit und Bekümmerung und Beschränkung, er würde seine ganzen ansehnlichen Kinder, so milde und zuversichtlich sie sind, zurücklassen und dem einen Sohn folgen, den er nie gekannt hat, den er geschont hat, wie man ein schlimmes Bein schont, würde ihn schützen, wie es ein Vater nicht kann, ihn mit einer Macht verteidigen, die er nicht besitzt, ihn mit einer Fülle erhalten, welche die Ressourcen seiner kühnsten Träume überstiege. Könnte Boughton der Alte sein, er würde jede Verfehlung vollkommen verzeihen, ob vergangen, gegenwärtig oder künftig, ob es sich um eine Verfehlung handelte, die zu vergeben ihm zustünde oder nicht. So zügellos würde er sein."
Ebd., 306