Donnerstag, Oktober 17, 2024
"Vielleicht kann ich die Traurigkeit vertreiben. Aber will ich das überhaupt? Der Himmel drapiert in Grau, das Drop-out-Dasein, von der Welt zurückgezogen, ohne für diese Verantwortung zu übernehmen, mit geschärftem Bewusstsein und ohne Verpflichtungen. Das ist die Trauer."
TOM KUMMER: Von schlechten Eltern. Stuttgart : Tropen, 2020, 213
Sonntag, August 11, 2024
"Ich selbst bin kein Bürger einer Nation. Der Sieg einer Nationalität wäre das Ende des Landes, das ich liebe. Wenn ich Schweizer bin, dann nur als Bürger eines Bundes, einer freien Föderation der Ungleichen. Das heisst, im tiefsten Herzen bin ich auch nicht Bürger eines Staates, sondern Teilnehmer einer Gesellschaft; einer Gesellschaft, die an Unterschieden, Widersprüchen, Konflikten wächst und nicht zerbricht. Europa ist für mich der Name für eine Vereinigung solcher Gesellschaften."
ADOLF MUSCHG: Von der Nationalität zur Bestialität. In: Ders.: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt : fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation. Erstausgabe. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1997. (edition suhrkamp ; 2045), 38
"Etliche Häuser wurden abgerissen und noch mehr Häuser wurden gebaut, es wurde renoviert und aufgestockt. Kinder wurden gross. Singvögel wurden weniger. Spechte wurden mehr. Und wo sind die sommerlichen Insektenwolken hingekommen, durch die ich früher mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem fuhr?
[...] Fast alles änderte sich während der langen Zeit. Ich selber verwandelte mich mehrfach. Und nicht minder die Kartons, die Prospekte, die Kataloge, die Zeitungen. Auch im Abfall war der Umbruch im Zeitungswesen wahrnehmbar. Die Druckerschwärze wurde weniger. Die Pizzakartons wurden mehr. Handschriftlich Geschriebenes verschwand fast zur Gänze, ich wohnte dem allmählichen Untergang einer Kultur bei. Die Kinder wurden dicker. Die Autos wurden dicker. Die Luft wurde dicker. Frauen mit blond gefärbten Haaren fuhren ihre Einzelkinder jetzt nicht mehr mit Mittelklassewagen zur Schule, sondern mit 250 PS starken SUVs, deren Funktion darin besteht, die Kleinfamilie vor der Welt und vor der beschissenen Zukunft zu beschützen. SUV-Fahrer hassen die Welt und hassen die Zukunft. Der grosse Wagen ist Ausdruck der eigenen Machtlosigkeit, ja Nichtigkeit. Zu Fuss gingen nur noch die wenigsten. Immer mehr Menschen trugen auf der Strasse Kopfhörer. Immer mehr Menschen tranken auf der Strasse Kaffee oder schauten auf ihre Elektrogeräte, sie hoben kaum je die Köpfe. Trittroller für Erwachsene kamen in Mode, bald sah man die Trittroller als Schrott in den Winkeln liegen.
ARNO GEIGER: Das glückliche Geheimnis. Lizenzausgabe. München : dtv, 2024, 188-189
"Als ich an dem Bett sass, auf dem mein Vater lag als Toter, weinte ich sehr. Ich streichelte seinen Arm und sagte, dass ich ihn liebe und dass er mein bester Mann sei.
'Für immer!'
Das hatte ich in den Jahren zuvor oft zu ihm gesagt, und oft hatte er es bestritten in der Überzeugung, dass nicht mehr viel mit ihm los sei. Ich wiederholte es, konnte es aber nicht beweisen. Wie auch? Er schüttelte den Kopf, beschämt wegen seiner Krankheit.
'Nein, ich nicht, ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich versuche alles in Ordnung zu halten, aber es gelingt mir nicht.'
'Es ist alles in Ordnung, Papa. Jedenfalls zwischen uns.'
Er schaute mich ungläubig an, als hätte er eher erwartet, dass ich ihn schimpfe wegen seiner Gebrechlichkeit. Und ich sagte ein weiteres Mal, dass er mein bester Mann sei. Er konnte es nicht recht glauben, es kam ihm unwahrscheinlich vor.
Bis heute hat sich an dem Gesagten nichts geändert, aber beweisen kann ich es weiterhin nicht. Doch auch abseits der Beweisbarkeit hat das Gesagte einen grundsätzlichen Gehalt in Bezug darauf, was Eltern ihren Kindern bedeuten können auch nach dem Tod."
Ebd., 195-196
Donnerstag, Juli 25, 2024
"Innerhalb eines Systems sind Politik, der Glaube an sie und das Bekenntnis dieses Glaubens identisch. Man braucht diesen Glauben nur zu bekennen, ob man ihn wirklich glaubt ist nebensächlich. Darum der unerträgliche Zynismus jener, die diese Systeme regieren, und leider immer mehr auch jener, die von ihnen regiert werden."
FRIEDRICH DÜRRENMATT: Stoffe I-III. Zürich : Diogenes, 1981,332
"Ausgangspunkt einer politischen Ordnung vermag nur der Mensch zu sein in seiner Unvollkommenheit: diese Ordnung nennen wir Demokratie."
Ebd., 336
"Nur so hat die Demokratie noch einen Sinn, im Kampf gegen den Staat für den Staat, in der Auseinandersetzung mit der Institution für die Institution, als Versuch, den Staat zu vermenschlichen. Mehr, als den Staat zu humanisieren, vermag keine Politik, sonst wird sie zum Abenteuer."
Ebd., 337-338
Donnerstag, Juli 18, 2024
"Die Welt, in die ich mich verirrt hatte, war nicht plötzlich, sondern sehr allmählich verändert worden, doch diese stetige, allmähliche Veränderung genügte, mich, der sich wie jeder von uns seiner Anlage nach nicht verändern kann, in der Vergangenheit zurückzulassen, wie Treibholz, das an einem verlorenen Ufer hängengeblieben ist."
FRIEDRICH DÜRRENMATT: Stoffe I-III. Zürich : Diogenes, 1981, 187
"Ich spürte nicht, was in ihm vorging, weil er mein Vater war; es gibt keine grössere Fremdheit als die, welche zwischen Vater und Sohn gesetzt ist, der Freiheit beider zuliebe."
Ebd., 206
Donnerstag, März 28, 2024
"16. November
Manchmal Anfälle von Wünschen (zum Beispiel nach einer Reise nach Tunesien); doch das sind Wünsche aus einer Zeit vorher - gleichsam anachronistisch; sie kommen von einem anderen Ufer, aus einem anderen Land, dem Land von einst. - Heute ist dieses Land flach, öde - fast ohne Wasserstellen - und lächerlich."
ROLAND BARTHES: Tagebuch der Trauer. München : Carl Hanser Verlag, 2010, 63
"Er setzte sich rasch; mit einem schnellen Griff zog er, schon fast mechanisch, das Heft aus der Mappe, das er immer bei sich trug, klein und unscheinbar und nicht grösser als ein Schulheft, er griff zum Stift und begann einfach aufzuschreiben, was er da sah und hörte, Gesichter, Gebärden, Geräusche, ein Lachen, ein Kurvenquietschen des Trams. Er schrieb ohne Ziel, ohne Absicht, wollte nichts mitteilen, er schrieb, um in Worten zu sein, sich festzuhalten am Stift, an den Worten, die er hinkritzelte, an den Bildern, die er sah, an den Sätzen, die er aufnahm und abschrieb, über Lady Shiva und den Aramäisch-Kurs, sie in sein Heft schrieb, damit sie da waren, auf dem Papier, damit überhaupt etwas da war und nicht dieses Taumeln, dieses Entschwinden und Sichabhandenkommen."
URS FAES: Halt auf Verlangen. Berlin : Suhrkamp, 2017, 28-29
Montag, Januar 29, 2024
"Welchen Weg ich gegangen sei?
Keinen.
Es war das Leben, das mit mir auf und davon ging.
Was hinterher wie ein Weg aussieht,
hat sich unmerklich an meine Fersen geheftet."
Keinen.
Es war das Leben, das mit mir auf und davon ging.
Was hinterher wie ein Weg aussieht,
hat sich unmerklich an meine Fersen geheftet."
KURT MARTI
Dienstag, Januar 02, 2024
"Der Traum von Schnee und Frost wird mit jedem Jahr nostalgischer, als wären sie endgültig irgendwo in der märchenhaften Kinderwelt geblieben, als wären Eisblumen und Schnee die Kindheit selbst. Der Schnee tritt in die Vergangenheit zurück, zieht höher in die Berge, weiter nach Norden. Sogar ein gewöhnlicher Winterurlaub bekommt Züge einer Pilgerfahrt Richtung Schnee. So wie man früher in dürren Jahren den Regen herbeigerufen hat, hat man in Moskau nun angefangen, den Schnee zu beschwören, wenn auch nur im Spass und auf Facebook. Seit kurzem gibt es in Russland den hochmütigen Begriff 'Euro-Winter', womit nicht nur der schneelose europäische Winter gebrandmarkt, sondern unterschwellig - wenn auch ironisch - die Demokratie der lauwarmen Europäer verspottet wird. Denn: alles schmilzt."
KATJA PETROWSKAJA: Eisblumen von Davos. In: Dies.: Das Foto schaute mich an : Kolumnen. Berlin : Suhrkamp Verlag, 2022. (Bibliothek Suhrkamp ; Band 1535), 183
"Keines verbleibt in derselben Gestalt, und Veränderung liebend,
Schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen,
Und in der Weite der Welt geht nichts - das glaubt mir - verloren;
Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden
Heisst nur, anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen
Nicht mehr sein wie zuvor."
Schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen,
Und in der Weite der Welt geht nichts - das glaubt mir - verloren;
Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden
Heisst nur, anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen
Nicht mehr sein wie zuvor."
OVID: Metamporphosen, zit. nach: HERLINDE KOELBL: Metamorphosen = Metamorphoses. Göttingen : Steidl, 2022