"Etliche Häuser wurden abgerissen und noch mehr Häuser wurden gebaut, es wurde renoviert und aufgestockt. Kinder wurden gross. Singvögel wurden weniger. Spechte wurden mehr. Und wo sind die sommerlichen Insektenwolken hingekommen, durch die ich früher mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem fuhr?
[...] Fast alles änderte sich während der langen Zeit. Ich selber verwandelte mich mehrfach. Und nicht minder die Kartons, die Prospekte, die Kataloge, die Zeitungen. Auch im Abfall war der Umbruch im Zeitungswesen wahrnehmbar. Die Druckerschwärze wurde weniger. Die Pizzakartons wurden mehr. Handschriftlich Geschriebenes verschwand fast zur Gänze, ich wohnte dem allmählichen Untergang einer Kultur bei. Die Kinder wurden dicker. Die Autos wurden dicker. Die Luft wurde dicker. Frauen mit blond gefärbten Haaren fuhren ihre Einzelkinder jetzt nicht mehr mit Mittelklassewagen zur Schule, sondern mit 250 PS starken SUVs, deren Funktion darin besteht, die Kleinfamilie vor der Welt und vor der beschissenen Zukunft zu beschützen. SUV-Fahrer hassen die Welt und hassen die Zukunft. Der grosse Wagen ist Ausdruck der eigenen Machtlosigkeit, ja Nichtigkeit. Zu Fuss gingen nur noch die wenigsten. Immer mehr Menschen trugen auf der Strasse Kopfhörer. Immer mehr Menschen tranken auf der Strasse Kaffee oder schauten auf ihre Elektrogeräte, sie hoben kaum je die Köpfe. Trittroller für Erwachsene kamen in Mode, bald sah man die Trittroller als Schrott in den Winkeln liegen.
ARNO GEIGER: Das glückliche Geheimnis. Lizenzausgabe. München : dtv, 2024, 188-189
"Als ich an dem Bett sass, auf dem mein Vater lag als Toter, weinte ich sehr. Ich streichelte seinen Arm und sagte, dass ich ihn liebe und dass er mein bester Mann sei.
'Für immer!'
Das hatte ich in den Jahren zuvor oft zu ihm gesagt, und oft hatte er es bestritten in der Überzeugung, dass nicht mehr viel mit ihm los sei. Ich wiederholte es, konnte es aber nicht beweisen. Wie auch? Er schüttelte den Kopf, beschämt wegen seiner Krankheit.
'Nein, ich nicht, ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich versuche alles in Ordnung zu halten, aber es gelingt mir nicht.'
'Es ist alles in Ordnung, Papa. Jedenfalls zwischen uns.'
Er schaute mich ungläubig an, als hätte er eher erwartet, dass ich ihn schimpfe wegen seiner Gebrechlichkeit. Und ich sagte ein weiteres Mal, dass er mein bester Mann sei. Er konnte es nicht recht glauben, es kam ihm unwahrscheinlich vor.
Bis heute hat sich an dem Gesagten nichts geändert, aber beweisen kann ich es weiterhin nicht. Doch auch abseits der Beweisbarkeit hat das Gesagte einen grundsätzlichen Gehalt in Bezug darauf, was Eltern ihren Kindern bedeuten können auch nach dem Tod."
Ebd., 195-196