Sonntag, Mai 29, 2011

"Es gibt keinen sinnstiftenden Gedanken, kein leitendes Prinzip, es gibt nur den Moment und die Versuche, ihn zu deuten. Was wir sind, sind wir durch unser Gegenüber, das sich wiederum durch uns definiert. Die Absichten werden nachgeschoben. 'Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiss.' Mit diesem einen Satz erledigt Kleist unseren Glauben an ein gesichertes Ich. Streng genommen gibt es uns nur durch Beziehung. Das bedeutet nicht, dass alles zufällig ist, aber die Faktoren, die diesen Zustand beeinflussen, sind ohne Zahl, und wir können nicht sagen, welcher von ihnen entscheidend ist, ob es die grossen Gedanken sind, die wir uns über das Glück und die Entwicklung der Menschheit machen, oder vielleicht die letzte Mahlzeit, die ein saures Aufstossen verursacht. [...] Weil er sie in ihrer Einzigartigkeit zeigt, kann Kleist seinen Figuren keinen Ort geben. Dafür verschafft er ihnen einen Raum. Dort können sie sich bewegen, tanzen, hüpfen, steigen und sinken, hinfallen und wieder aufstehen. Was sie sind, sind sie durch Bewegungen ihrer Gefühle. Ihre Menschlichkeit zeigt sich in der Weigerung, sich verorten zu müssen, im Willen zur Verwandlung.
Vielleicht geht es in der Literatur nur darum. Die Gesellschaft und den Staat, die auf Ordnung und Beständigkeit setzen, muss dies beunruhigen. [...] Wer auf seiner Verwandlung beharrt, wird bestraft. Es gibt in den geordneten Strukturen keinen Ort für jene, die an nichts als Metamorphose glauben. [...] Dichter wie Heinrich von Kleist definieren keine Orte, sie schaffen Räume, in denen sie sich selbst und wir alle uns verändern können, in der Vorstellung und manchmal sogar in der Wirklichkeit."

LUKAS BÄRFUSS: Was wir sind, sind wir durch unser Gegenüber : zum 200. Todestag des Dichters Heinrich von Kleist, der den Menschen als Beziehungswesen entdeckte. In: Der Bund, 28.05.2011, 33-35

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