Donnerstag, Januar 10, 2019

"Ahnen Sie, was Ihr Treibstoff als Schriftsteller ist? Ich habe mal Martin Walser interviewt. Er drehte den Spiess um und befragte mich, warum ich schreibe. Vierzehn Tage später wusste ich, was mein Hauptmotiv zu sein scheint: die Trennung meiner Eltern auf dem Höhepunkt des Krieges. Ich habe das nie verstanden. Diese beiden leichtsinnigen Menschen! Ich billige ihre Gründe nicht. Sie passten zueinander. Für ein Kind ist eine Scheidung wie ein Bombenangriff. Ich bin zeitlebens im Gange, sie wieder zusammenzubringen. Die sind schon lange tot, aber ich bin als Diplomat und Erzähler unterwegs und füge die Welt wieder zusammen, wie sie vor ihrer Trennung war. 
Welche Gründe hatte die Trennung? Die Aussicht, in der nächsten Woche tot zu sein, befördert Entschlüsse. Mitten im Krieg hatten meine Eltern plötzlich die Idee, das Glück liegt woanders. Als Kind kann man sehr gut beobachten. Ich habe nie wieder so viel Glückssucher und Alchemisten ihres Lebens erlebt wie in der Kriegszeit. 
Wo suchten Ihre Eltern das Glück? Meine Mutter war wie ein Abenteurer und nahm an, dass es in der Reichshauptstadt mit einem wunderbaren neuen Mann ein noch besseres Leben gebe als in der Provinzstadt Halberstadt. Mein Vater reagierte darauf wie Bajazzo in der Oper von Leoncavallo: Er kesselte sich in den Künsten ein. 
Ist Ihre Mutter in Berlin glücklich geworden? Sie behauptete es, aber ich gestehe es ihr nicht zu. Ich bin ja ideologisch. Ich bin ja Patriot der Familie. Ich werde es bestreiten, dass sie glücklich wurde."
ALEXANDER KLUGE [im] Gespräch [mit] Sven Michaelsen: "Ich füge die Welt wieder zusammen, wie sie vor der Trennung meiner Eltern war". In: Das Magazin, 2018, N° 45, 29

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