Montag, Juni 04, 2012

"Inzwischen war [die Liebe] uns jedoch nun schon vor längerer Zeit gänzlich abhanden gekommen, obwohl wir uns vom Grossen Ganzen längst verabschiedet hatten zugunsten des privaten Glücks. Aber auch die, die uns endlich nahe gekommen waren, hatten wir verloren, nachdem wir schliesslich doch sogar über Jahre bei ihnen geblieben waren, um neugierig, überrascht, beglückt, entsetzt zuzusehen, wie wir durchlässig geworden waren für fremde Stimmen und fremde Gesten und auch für die Zerstörungen der Zeit.
Und dann waren die Geliebten irgendwann einfach nicht mehr da, waren ganz langsam hinausgerutscht aus unserem Leben, und es hatte keine Gesten mehr gegeben und keine Stimmen. Die Haut, die wir gestreichelt hatten, erneuerte sich und unsere eigene Haut starb ab, heimlich hatte sich alles verändert, die Körper, die wir kaum mehr erkannten, die Wünsche, das Verhältnis zur Welt. Zuerst hatten wir das gar nicht richtig bemerkt, und dann hatten wir es nicht wahrhaben wollen, aber es waren da nun keine Schmerzen mehr, keine Aufregungen, kein Glück. Wenn man nur wüsste, dachte ich, warum und wohin die Liebe verschwunden ist, irgendwohin oder vielleicht sogar nirgendwohin, in jedem Fall war sie immer anderswo [...].
Aber wie können wir leben, wenn wir uns nicht aufgeben in Zärtlichkeit."
GABRIELE RIEDLE: Überflüssige Menschen. Berlin : AB-Die Andere Bibliothek, 2012, S. 84-85

"Hin und wieder hatte ich mich auch zu erinnern versucht, wann das angefangen hatte. Ob es einen bestimmten Zeitpunkt gegeben hatte, einen Morgen, einen Nachmittag, einen Abend, an dem ich aufgehört hatte, unsterblich zu sein, und ob sich also sagen liesse, wann mein allererster Todestag zu Leibzeiten gewesen sein mochte, und mein Körper unter Verdacht geraten war, Dinge zu entwickeln, von denen ich nichts wusste und mit denen ich nichts zu tun haben wollte.
[...] wir waren wehleidig geworden und panisch und trauten unseren eigenen Gesichtern nicht mehr, weil sie aussahen, als seien wir jung, jung für immer und ewig.
Aber natürlich verbargen wir auch dieses Misstrauen, so wie wir schon das Knirschen in unseren Knochen verbargen, denn wer hätte uns, schmutzig und fleckig und inwendig ungewaschen, wie wir waren, geschäftliche Aufträge gegeben und Angebote zum Beischlaf machen wollen.
Deshalb lächelten wir stets tapfer, lächelten und spannten die Wangenmuskeln an, lächelten und fletschten die Zähne, während unsere Körper ächzten, als fegte der Wind durch hölzerne Häuser, so dass wir immer wieder dachten, alle müssten ihn hören, diesen Lärm der Fruchtlosigkeit, den wir verbargen, indem wir redeten und redeten , so laut und so hastig wie möglich."
Ebd., S.119-120

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite