Sonntag, April 15, 2012

"Man kann Gott auf verschiedene Weise vermissen, ihn selbst in der persönlichen Lieblingsvorstellung oder das, wofür er stand: Ordnung, Sinn, Bedeutung. Atheisten behaupten, das Vermissen sei überflüssig, Christen behaupten, es sei unnötig, Julian Barnes [mit seiner Aussage, dass er nicht an Gott glaube, ihn aber vermisse] fühlt es.
Und indem er seinem Fühlen Ausdruck gibt, stellt er die sich um die Wahrheit streitenden Atheisten wie Gottgläubigen an einen Ort, der ihnen weniger behagt, weil sie nicht mehr gegeneinander und mit him rivalisieren und argumentieren können. Es ist, als ob der Gottgläubige und der Atheist sich gegenüberstehen mit verschränkten Armen, und Barnes tritt dazwischen und fasst jeden an der Schulter und schaut mit ihnen Seite an Seite in eine Richtung: auf das leere Land, in dem Gott niemals war, wie der eine sagen würde, wo er ist und doch nichts tun kann, wie es der andere glaubt. In diesem Land sind die Menschen von heute und kommen von Ferne die Menschen von morgen, und sie alle hegen die Hoffnung, nicht zu sehr leiden zu müssen und vielleicht die Aussicht auf ein gutes Leben zu haben.
Und wenn das nicht reicht, wenn es nicht genügen sollte, zu sehen, wie die Menschen sich abmühen, könnte er den beiden ins Gewissen reden (von dem er weiss, welch hohe Bedeutung es hat für sie), sie daran erinnern, dass wir nicht wissen können, ob unser Wissen das ganze ist, dass wir hoffen dürfen, aber unsere Hoffnung keinem in jenem leeren Land vorschreiben können, und dass die Frage, was wir tun sollen, nicht an die Menschen dort, sondern an sie beide gestellt ist, Und er könnte nachschieben, dass wir nicht zu wissen brauchen, was der Mensch ist, weil ein Blick dorthin genügt, um zu erkennen, was er nicht verdient hat:  Ungerechtigkeit, Angst, Armut."

Aus: MICHAEL GRAF: "Gott selbst kann nichts tun". In: Der Bund, 24.03.2012, S. 36-37

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