Montag, November 12, 2007

"Im Jahr 1988 veröffentlichten Sie Ihren ersten Lyrikband bei Suhrkamp. Zur Präsentation reisten Sie ein paar Tage zur Frankfurter Buchmesse. Wie verlief Ihre erste West-Begegnung?"
"Wenn ich diese Erinnerung aufrufe, merke ich, dass ich überhaupt kein politischer Mensch bin. Ich war auf einer alltagskulturellen Ebene geschockt. Ich stieg in Dresden in den Zug und kam am Morgen in Frankfurt an. Steige aus, gehe in die Bahnhofshalle und registriere sofort: Das hier ist eine völlig andere Sache. Es gab andere Gerüche, andere Farben, andere Lichter. Eine enorme Intensität, als hätte man plötzlich in einem Schwarzweissfilm die Farben angestellt. Ich habe eine Art hysterischen Anfall bekommen. Sah, welchen Sprung die Zivilisation gemacht hatte, und musste die ganze Zeit lachen. Das war ein Schock. Danach war ich quasi für Wochen blockiert, weil ich begriff, dass ich im Grunde zwei Jahrzehnte mit meinem ganzen Denken und Wahrnehmen hinterher geblieben war. Ich war aus einem Depot der Geschichte gekommen."
[...]
"Die Gleichaltrigen im Westen hat zu der Zeit eher der Tod von John Lennon bewegt."
"Der Tod von John Lennon gehört mit zur «Generation 80». Er ist ein absolut einschneidendes Datum in meiner kurzen Lebensgeschichte. Genauso wie die Ereignisse in Polen. Ich sass in Dresden Hellerau, in der elterlichen Wohnung, am frühen Morgen. Im Deutschlandfunk kam die Nachricht, dass Lennon vor dem Dakota Building in New York erschossen worden war. Das war ein Schockerlebnis! [...] Ich habe es nicht begriffen, begreife es eigentlich bis heute nicht. Das ist der erste Riss in meinem Generationsgefühl, der Sprung in der Tasse. Völlig unverarbeitet und nie zu verarbeiten. Ich habe das mit mir herumgetragen als ganz persönlichen Schmerz. Ich habe neulich gedacht, das ist eigentlich der Beginn dieses diffusen Terrors in der Gesellschaft gewesen, der mich heute so richtig begleitet. Alles, was seither kam an aberwitzigen, irrsinnigen Geschichten und schlimmen Bosheiten in meiner Umwelt, kann ich im Schockgefühl darauf zurückdatieren. Als wäre in diesem Moment die Unschuld verloren gegangen."
Hoffnung, Schock und Krampf: DURS GRÜNBEIN erinnert sich [im Gespräch mit CARSTEN HUECK] an den Fall der Berliner Mauer und an den Tod von John Lennon. In: NZZ, 09.11.2007, 49.

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