Sonntag, Juni 26, 2005


Bild: Hugo Keller
Ronchamp, Frankreich, 05.10.2003

"Über Ronchamp ist viel geschrieben worden. So ist bekannt, dass Le Corbusier als Atheist, der allerdings für Spirituelles durchaus empfänglich war, sich anfangs nicht sonderlich interessierte, für die katholische Kirche zu bauen, auch wenn seine enthusiastischen Auftraggeber reformerische Ideen auf dem Gebiet der Sakralkunst vertraten. Als er dann aber am 20. Mai 1950 während einer Zugsfahrt von Paris nach Basel kurz vor Belfort die Ruine der im Krieg zerstörten Marien-Wallfahrtskirche auf dem Bourlémont hoch über Ronchamp erblickte, griff er spontan zum Skizzenblock. Ein kurz darauf unternommener Besuch der magischen Stätte begeisterte ihn dann derart, dass er mit einer ebenso kosmologischen wie musikalischen Konstellation konkaver und konvexer Formen auf die Landschaft, die vier Himmelsrichtungen und auf das Gemurmel des Ortes reagierte.
[...] Eine komplexe Recherche, bei der Le Corbusier auch Naturformen - Knochen, Schalentiere, Muscheln - zur poetischen Inspiration nutzte, liess ihn schliesslich zur definitiven Form vordringen. Diese realisierte er auf unkonventionelle Weise, nämlich mit Hilfe eines Betonskeletts, das er mit den Bruchsteinen der zerstörten Kirche ausfachen liess. Pfeiler aus solchen Steinen tragen auch die als doppelte Membran gegossene Betonplastik des Daches, deren Gestalt man heute ohne Hilfe des Computers wohl kaum noch herzustellen wagte. Diese gleichermassen technisch raffinierte wie archaische Konstruktion wurde schnell zum Symbol einer aus ihrer calvinistischen Strenge erlösten Architektur, aber auch zum wohl wichtigsten Prototyp des zeitgenössischen Sakralbaus."

ROMAN HOLLENSTEIN: Ein skulpturales Gefäss der Stille. Die Wallfahrtskirche Ronchamp wird 50 Jahre alt. In: NZZ, 25./26.06.2005.

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