"'[...] Aber vielleicht existieren gar keine Fotografien des Lebens. Ich hatte immer schon das Gefühl gehabt, dass jedes Porträt ein Bild des Todes ist, sowohl für den, der sich in Positur setzt, als auch für den, der das Foto macht. Die Illusion, die Zeit anhalten zu können, bestätigt umso nachdrücklicher, dass wir unausweichlich sterben müssen.'"

DOMENICO DARA: Malinverno, oder, Die Bibliothek der verlorenen Geschichten : Roman. Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2023, 300-301

"Denn das Leben, das wir führen oder zu führen glauben, spielt sich unter den wenigen Quadratzentimetern unserer Schädeldecke ab; all die denkwürdigen einzigartigen Ereignisse unseres Lebens finden in unserem Kopf statt. Das Leben, das wir gelebt zu haben glauben und das wir wiedererlangen dürfen, wenn es an der Zeit ist, Bilanz zu ziehen, dieses Leben hat in der Intimität unserer Gedanken stattgefunden, die den anderen und dem Universum unbekannt sind. Denn wir sind nicht das, was wir erlebt haben. Wir sind das, was wir gedacht, uns vorgestellt, erhofft, gewünscht und vergessen haben. Das Universum wird niemals wissen, wie unsere stille, geheime Existenz tatsächlich verlaufen ist, niemand wird je von unseren geheimen Reisen, unseren Liebesfantasien, von den Hunderten Leben erfahren, die in den unendlichen Universen eines Neurons enthalten sind."

Ebd., 313-314