Mittwoch, August 02, 2017

„Ich überlegte: Wie viele zufriedene und glückliche Menschen gibt es doch im Grunde! Was für eine erdrückende Kraft das ist! Schauen Sie sich dieses Leben an: Unverschämtheit und Müssiggang der Starken, Unwissenheit und viehische Lebensweise der Schwachen, ringsum unmögliche Armut, Enge, Degeneration, Trunksucht, Heuchelei und Lüge … Unterdessen herrscht in allen Häusern, auf allen Strassen Stille, Ruhe; unter den fünfzigtausend Einwohnern der Stadt ist keiner, der aufschreien, sich laut empören würde. Wir sehen die, die auf den Markt gehen, um Lebensmittel zu kaufen, tagsüber essen, nachts schlafen, die ihren Unsinn erzählen, heiraten, alt werden, unbekümmert ihre Toten auf den Friedhof schleppen: die aber, die leiden, sehen und hören wir nicht, und was im Leben schrecklich ist, geschieht irgendwo hinter den Kulissen. Alles ist still, ruhig, und allein die stumme Statistik protestiert: Soundso viele haben den Verstand verloren, soundso viele Eimer Wodka wurden getrunken, soundso viele Kinder sind an Unterernährung gestorben … Und diese Ordnung ist offenbar notwendig; offenbar fühlt sich der Glückliche nur deshalb wohl, weil die Unglücklichen ihre Last schweigend tragen, und ohne dieses Schweigen wäre das Glück nicht möglich. Das ist eine allgemeine Hypnose. Vor der Tür eines jeden zufriedenen, glücklichen Menschen müsste jemand mit einem Hämmerchen stehen und ihn ständig durch Klopfen daran erinnern, dass es Unglückliche gibt, dass ihm das Leben, so glücklich er auch sein mag, früher oder später seine Krallen zeigen, dass ein Unglück geschehen wird – eine Krankheit, Armut, Verluste – und dass ihn dann niemand sehen und hören wird, so wie er jetzt die andern nicht sieht und nicht hört. Aber den Mensch mit dem Hämmerchen gibt es nicht, der Glückliche lebt vor sich hin, die kleinen alltäglichen Sorgen bewegen ihn nur leicht wie der Wind die Espe – und alles steht zum besten."
ANTON TSCHECHOW: Stachelbeeren. In: Die Dame mit dem Hündchen : Erzählungen 1896-1903. Düsseldorf : Artemis & Winkler, 2004, Seite 246-247

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