Dienstag, Januar 12, 2010



Bild: Hugo Keller
Rousseau-Denkmal, St. Petersinsel, Schweiz, 10.01.2009

"Im Verlauf unseres eigenen, jetzt beinah beendeten Jahrhunderts hat die Rousseaubegeisterung sich allmählich gelegt. Jedenfalls haben sich in den paar Tagen, die ich auf der Insel verbrachte und während derer ich mehrere Stunden im Fenster des Rousseauzimmers gesessen bin, nur zwei der Ausflügler, die zum Spazierengehen und Brotzeitmachen auf die Insel herüberkommen, in die spärlich bloss mit einem Kanapee, einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl möblierte Kammer verirrt, und auch diese beiden sind, offenbar enttäuscht von dem wenigen, das es da zu sehen gab, gleich wieder gegangen. [...] Mir aber war es in dem Rousseauzimmer, als sei ich zurückversetzt in die vergangene Zeit, eine Illusion, auf die ich umso leichter mich einlassen konnte, als auf der Insel dieselbe, von keinem noch so fernen Motorgeräusch gestörte Stille herrschte wie überall auf der Welt vor hundert oder zweihundert Jahren. Besonders gegen Abend, wenn die Tagesausflügler wieder heimgekehrt waren, tauchte die Insel ein in eine Ruhe, wie es sie sonst im Umkreis unserer Zivilisation fast nirgends mehr gibt, und in der nichts mehr sich rührte ausser vielleicht die Blätter der mächtigen Pappeln in den Brisen, die manchmal entlangstrichen am See. Immer heller wurden die mit feinem Kalkschotter befestigten Wege, als ich in der zunehmenden Dämmerung auf ihnen dahinging, vorbei an umzäunten Weiden, an einem blassen, reglosen Haberfeld, an einem Weinberg und einem Winzerhäuschen bis hinauf zu den Böschungen am Rand des schon nachtschwarzen Buchenwalds, von wo aus ich die Lichter angehen sah, eines ums andere am jenseitigen Ufer. Die Dunkelheit schien aus dem See aufzusteigen, und einen Augenblick lang tauchte in mir, wo ich hinabschaute, ein Bild auf, das etwa einer Farbtafel in einem alten Naturkundebuch glich und das, freilich um vieles schöner und genauer als solch ein kolorierter Druck, zahlreiche Seefische zeigte, wie sie schlafend in den tiefen Strömungen standen zwischen den finsteren Wänden des Wassers, hinter- und übereinander, grössere und kleinere, Rotaugen und Rotfedern, Elritzen und Lauben, Haseln und Hechte, Saiblinge und Forellen, Welse, Zander und Barben und Schleien und Äschen und Karauschen."
W.G. SEBALD: J'aurais voulu que ce lac eût été l'Océan - anlässlich eines Besuchs auf der St. Petersinsel. In: Logis in einem Landhaus. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2000, 50-51

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