Sonntag, Januar 03, 2010

"In seinem Buch "Der wunderbare Weg" schreibt der amerikanische Psychiater M. Scott Peck von der Liebe als einem Akt, sich selbst zum Wohle anderer zu erweitern. Ich halte das auch für eine ziemlich gute Definition von Kunst, und es wundert mich überhaupt nicht, dass die Definitionen von Liebe und Kunst die gleichen sind.

[...] in der Literatur weiss man von vornherein, dass alles erfunden ist, und nur in der Literatur kann man sich deshalb in ein Leben hineinbegeben, das definitiv nicht das eigene ist. Leute, die andere zu Mördern ausbilden, tun das genaue Gegenteil von dem, was die Literatur leistet: Sie bringen einen dazu, keine Empathie zu empfinden und zu glauben, dass ein anderes Leben keinerlei Wert hat, dass der andere ein 'Untermensch' sei, denn wenn er ein Mensch wäre, könnte man ihn nicht töten. Die Literatur hingegen macht den anderen zum 'Übermenschen'.
[...]
Am Ende ist alles eine Geschichte - nicht zuletzt die Geschichte vom eigenen Leben und von der Macht, über die man darin verfügt. Normalerweise hat man nicht besonders viel Kontrolle über sein eigenes Leben, aber wenn man einmal begriffen hat, dass man Teil einer Geschichte ist, auf die man einwirken kann, gewinnt man auch Macht über sein eigenes Leben.
[...]
Wir haben keine wirklichen Demokratien, und wir sind nicht wirklich frei. Das Individuum wird in unserer Gesellchaft in erster Linie als Einheit betrachtet, die kauft und konsumiert - nicht zuletzt auch die Geschichten, die man uns über das eigene Leben erzählt, von denen die meisten allerdings nicht stimmen."

Aus: Am Ende ist alles eine Geschichte: die schottische Schriftstellerin A.L. KENNEDY bekennt sich zum Glauben an die Macht der Literatur. In: NZZ, 31.12.2009, 59

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