Sonntag, November 15, 2009

" '[...] Mensch werden ist kein Entscheid. Es ist etwas, das auferlegt wird - von der Zumutung bis zur Chance, ob zu unserem Glück oder Unglück. [...] Wir kommen ungefragt auf diese Welt. Wir stellen unsere Fragen erst, nachdem wir längst mit dieser Welt verhaftet sind. Wir haben die Antworten, bevor wir fragen. [...] Wir werden in ein soziales Milieu hineingeboren, für das wir nichts vermögen und wofür wir unter Umständen bitter bezahlen, und nicht nur, wenn wir auf eine Welt der alarmierenden Misere kommen, der Unterernährung und des Hungers [...]. Unsere Ankunft in dieser Welt erhält eine paradoxe Spannweite: Im gleichen Masse, wie wir Opfer von Bedingtheiten werden, für die wir nichts können, werden wir Profiteure von Bedingungen, zu denen wir nichts beigetragen haben. Es genügt, auf der Seite der Mächtigen und Privilegierten geboren zu sein, um Komplize zu werden.'
[...]aber mit jedem und jeder, die auf die Welt kommen, kann die Hoffnung jemanden begrüssen, der die Welt nicht hinnimmt, wie er sie vorfindet.
'[...] Keine kindliche Unschuld, sondern von der Wiege an Schuldpartizipation. Grösser- und Erwachsenwerden als Hineinwachsen in die aufgezwungene Komplizenschaft, und damit in ein Schuldbewusstsein. Schritte in Richtung einer Unschuld, die nicht am Anfang steht, sondern am Ende, die Unschuld wird, indem sie sich der eigenen und kollektiven Schuld bewusst wird. Welches auch immer die Umstände sind für meinen Auftritt als Mensch, mein glaubenloses Credo möchte an eine Welt glauben, in der der Mensch nicht leiden soll für etwas, wofür er nichts vermag [...]. Damit würden auch alle mildernden Umstände wegfallen. Wenn keine mildernden Umstände mehr in Betracht gezogen werden müssen, ergäbe sich die Möglichkeit einer unbedingten und vollen Verantwortung.'
[...] Was, wenn kein Credo beanspruchen kann, als einziges die Wahrheit zu besitzen, wenn es keine alleinseligmachenden Kirchen gibt, keine auserwählten Völker mehr und wenn nicht zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterschieden wird, sondern höchstens zwischen Gläubigen und Andersgläubigen. [...] Sind wir als Person nicht defizitär, als Individuum nur eine Möglichkeit des Menschseins lebend? [...] Was ist nicht alles in mir ansprechbar und ungenutzt. [...] Es sind die andern, die Möglichkeiten von mir leben, indem sie ihre eigenen leben, und wie schön, wenn ich von jemandem hören könnte, ich hätte für ihn eine seiner Möglichkeiten gelebt.
Ist nicht jedes Land im gleichen Sinn bloss eine Möglichkeit von Nation? Und die Religion: Ist nicht jedes Credo nur ein Credo neben andern? Wenn es also darum geht, den Menschen in all seinen Möglichkeiten zu kennen, wird der andere nicht jemand, den ich toleriere, sondern jemand, den ich unerlässlich und unverzichtbar im Zeichen eines umfassenden Menschseins brauche: ich bin erst dank seiner und aller andern ein kompletter Mensch.
[...] War meine Zeit eine Unzeit?
War das eine Zeit für einen, der von der Welt erwartete, auf ihr könnten alle sich nach ihren Fähigkeiten und Neigungen entwickeln, nach ihren Möglichkeiten und Erwartungen leben. [...] Wenn Menschenmögliches weltweit vernichtet und verunmöglicht wird - kann dies eine Gesellschaft des Menschenmöglichen sein? Oder sollte die Geschichte des Menschenmöglichen noch gar nicht angebrochen sein?
[...] Sollte ich in der Vorgeschichte gelebt haben? [...] Jahrhunderte, genutzt zur Verbesserung der Methoden, einander umzubringen. [...] Mit einer Geographie von Imperien und Ruinenfeldern.
[...] Eine Prähistorie, in der eine Menschheit seit Jahrtausenden unterwegs ist. [...] Ganze Völker umgesiedelt. Millionen in Notzelten. Eine Geschichte von Verschleppten und Gestrandeten. Auswanderer auf der Suche nach dem gelobten Land. [...] Eine Menschheit nach wie vor unterwegs, den Ort zu finden, wo sie sich einrichten könnte, um auf der Welt heimisch zu werden.
[...] Und was mit all dem, was noch aufgearbeitet werden müsste ... Was für ein Traum von Neubeginn und sauberem Anfang.
[...] Ein Aufarbeiten, um mit einem mehr oder weniger guten Gewissen an die Zukunft zu gehen. In der Annahme und Hoffnung, dass eine Zukunft auf uns zukommt. Damit der Vorgeschichte eine Geschichte folgt.
[...] Geht diese Prähistorie zu Ende, nachdem die Welt zusammengekommen ist? Entsteht nun zum ersten Mal Weltgeschichte, da nicht mehr irgendwo etwas passiert, ohne dass es anderswo Folgen hat? Jeder Ort ein Überall, da auf einer Kugel jede Stelle ein Zentrum sein kann. Die Spannung von Rand und Zentrum hinfällig. Keine weissen Flecken mehr auf der Landkarte ausser dem Niemandsland, das jeder von uns in seiner ungenutzten Hirnsphäre mit sich herumträgt.
[...] So viele jenseitige Ufer ich kennengelernt habe, für die Erdkugel fand ich kein Gegenufer. Auf ihr erwies sich alles Jenseitige als diesseitig.
[...] Es bleibt die ungefragte Welt. Eine andere habe ich nicht. Würde ich sie aufgeben, ich hätte nichts unter meinen Füssen.
[...] Also will ich, dass es diese Welt gibt. Nicht zuletzt, weil ich will, dass es die gibt, die ich liebe. Auch wenn mir die Argumente zugunsten dieser Welt schwerfallen. Eines bleibt, sie zu lieben, da ich für die Liebe keiner Begründung bedarf - alle Ungeheuerlichkeiten und jeden Wahnsinn vor Augen, ertragbar dank einer Zuneigung, die unbelehrbar ist. Es sind die Füsse, die den Boden erfinden.
Aus einer ungefragten Welt eine gefragte machen."

HUGO LÖTSCHER: War meine Zeit meine Zeit. Zürich: Diogenes, 2009, 379-408

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