Montag, Oktober 12, 2009

"Frischs Liberalismus und Dürrenmatts Konservativismus haben beide ihre theologischen Aspekte. Bei Frisch liegen diese in seiner Selbsterlösungslehre. Bei Dürrenmatt wurzeln sie, anfänglich zugegeben, später geleugnet, in einem unorthodoxen Gottesbegriff. Wenn zum Glauben des Konservativen gehört, dass sich die Welt nicht in einem gewaltigen Selbstwerdungsprozess vorwärtsbewegt, dass also nichts neu ist, sondern alles uralt, dann muss der Konservative auch ein Modell dieser Grundstruktur liefern können.
Bei Dürrenmatt ist dies, ganz schematisch gesprochen, der vertikale Grundriss mit der unerlösten, grausamen, blutigen, ungerechten Menschenwelt unten und dem unerreichbaren, unbegriffenen, gefürchteten und verehrten Gott oben über allem. Auch wenn Dürrenmatt versucht hat, diesem Modell alle christliche Theologie auszutreiben, wenn er sich immer verbissener zum Atheisten erklärte, wenn er entsprechende Stellen in seinem Werk wie etwa den Schluss des 'Tunnels' gestrichen hat, weggekommen von diesem Grundriss ist er nie. Das räumliche Oben und Unten bleibt ja bestehen, auch wenn man erklärt, oben ist niemand. Mann kann alle denkbaren Gottesbilder liquidieren, die Stelle im Weltganzen, wo Gott wäre, wenn er wäre, bleibt bestehen. Deshalb hat Dürrenmatt in der späten Erzählung 'Der Auftrag' die grandiose Theorie entwickelt, die Menschheit habe es nicht mehr ausgehalten, immerzu von oben, von Gott, beobachtet zu werden, und habe deshalb diesen Gott abgeschafft. Jetzt aber halte sie es auch nicht aus, dass sie von niemandem mehr gesehen werde und gewissermassen unter einem ausgestochenen Auge leben müsse. So installiere die Welt nun riesige Systeme der gegenseitigen Beobachtung und Überwachung, aus angeblich politischen Gründen, in Wahrheit aber, um dem Entsetzen des Nicht-mehr-gesehen-Seins zu entgehen.
[...] Für Frisch ist die Liebe identisch mit dem Aufbruch. Die Selbsterlösung wird immer ausgelöst oder besiegelt von der Liebe, der konkreten Liebe zu einer Frau. Aber das Fatale ist, dass diese Liebe selbst wieder erstarrt und also ebenfalls wieder aufgebrochen werden muss, gesprengt und hinter sich gelassen in der Hoffnung, doch noch die Erlösung in einer endgültigen Liebe zu finden.
So wird bei Frisch der zentrale Akt der Selbsterlösung immer wieder zu einer schweren Schuld. Dies ist das Modell einer objektiven Tragik. Die dauerhaft gelebte Ordnung zu zweit würde Kompromisse verlangen, aber diese Kompromisse blockieren die urtümliche Dynamik des sich selbst erlösenden Subjekts. Die Qualen dieses Dilemmas übersetzt Frisch in seine Literatur. Und doch hat er immer auch das Glück und die Lust gestaltet, die mit dem Geschehen verbunden sind.
Für Dürrenmatt ist die Liebe das einzige Gute, das es in einer Weltder unaufhörlichen Brutalität, der ewigen Schlacht zwischen illusionären Ordnungen geben kann. Die Liebe kann die Welt nicht erlösen, weil es keine Selbsterlösung der Menschheit gibt. Sie ist wie eine Blume auf einem Schlachtfeld, zufällig, wunderbar und ohne Zukunft. Sie ist ein höchster Wert, der nichts bewirkt, wie die Begegnung von Claire Zachanassian und Alfred Ill im Walde.
Die Erfahrung solcher Liebe kann dem Menschen aber plötzlich geschenkt werden als die höchste Wirklichkeit, die es auf unserem geschändeten Planeten gibt. Sie fällt zusammen mit dem Aufleuchten von Gnade."
Aus: PETER VON MATT: Sprengmeister. In: Der kleine Bund, 10.10.2009, 8-9

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