Freitag, September 27, 2013

"Moderne Gesellschaften sind säkular in dem Sinn, dass in kultureller Hinsicht dem Leben vor dem Tod die zentrale Bedeutung zugeschrieben wird. [...] Wie reich, voll oder gut ein Leben ist, lässt sich gemäss der in der westlichen Moderne dominanten kulturellen Logik an der Anzahl und der Tiefe der in diesem Leben gemachten Erfahrungen messen. [...] Diese Vorstellung setzt nicht länger voraus, dass es ein "höheres Leben" gibt, das nach dem Tod auf uns wartet, sondern zielt auf die Realisierung möglichst vieler Optionen aus der unendlichen Palette an Möglichkeiten, die die Welt uns eröffnet. Das Leben in all seinen Zügen, seinen Höhen und Tiefen und seiner Komplexität auszukosten wird zum zentralen Streben des modernen Menschen.
Wie sich schnell herausstellt, hat die Welt jedoch leider stets mehr zu bieten, als wir in der Spanne eines einzigen Lebens erfahren können. [...] Die Beschleunigung des Lebenstempos erscheint daher als naheliegende Lösung dieses Problems: Wer "doppelt so schnell" lebt, wer nur die Hälfte der Zeit benötigt, um eine Handlung auszuführen, ein Ziel zu erreichen oder eine Erfahrung zu machen, kann "die Summe" von Erfahrungen und damit des eigenen Lebens in einer Lebensspanne verdoppeln. [...] Die eudaimonistische Verheissung der modernen Beschleunigung liegt daher in der (unausgesprochenen) Vorstellung, dass die Beschleunigung des Lebenstempos unsere (also die moderne) Antwort auf das Problem der Endlichkeit und des Todes ist. Es muss kaum darauf hingewiesen werden, dass diese Vorstellung ihr Versprechen leider nicht einlösen kann: Dieselben Techniken, die uns dabei helfen, Zeit zu sparen, führen zu einer Explosion der Weltoptionen. Ganz egal, wie schnell wir werden, unser Anteil an der Welt, also das Verhältnis der realisierten Optionen und der gemachten Erfahrungen zu denjenigen, die wir verpasst haben, wird nicht grösser, sondern konstant kleiner."
HARTMUT ROSA: Beschleunigung und Entfremdung. 1. Aufl. Berlin : Suhrkamp, 2013, 39ff

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