Samstag, September 28, 2013

"Ich möchte den Vorschlag machen, eine Gewalt dann als "totalitär" zu bezeichnen, wenn sie (a) Druck auf den Willen der und Handlungen der Subjekte ausübt, wenn es (b) unmöglich ist, ihr auszuweichen, so dass in der einen oder anderen Form alle Subjekte von ihr betroffen sind, wenn sie (c) alle Lebensbereiche durchdringt und nicht auf die eine oder andere Gesellschaftssphäre beschränkt ist, und wenn es (d) schwierig oder nahezu unmöglich ist, sie zu kritisieren und zu bekämpfen.
So würden wir gewiss geneigt sein, ein Regime als totalitär zu bezeichnen, wenn es die ihm Unterworfenen systematisch dazu bringt, des Nachts schweissgebadet und von entsetzlicher Angst gepeinigt, mit einem unerträglichen Druck auf der Brust aufzuwachen in der Erwartung, dass es um sie bereits geschehen sei, dass ihr sozialer Tod (oder zumindest ihr tiefer Fall) mehr oder minder unvermeidlich sei. Wir können aber ziemlich sicher sein, dass Nacht für Nacht mehr Menschen unter ebensolchen Bedingungen in der sogenannten freien, entwickelten westlichen Welt aufwachen (oder schlaflos liegen), als beispielsweise in Saddam Husseins Irak der Fall gewesen sein mag oder sogar im zeitgenössischen Nordkorea der Fall ist. Politische Diktaturen, und seien sie noch so brutal, erfüllen di Bedingungen (b), (c) und (d) kaum jemals vollständig. Es ist immer möglich, sich auf die eine oder andere Weise zu widersetzen, Widerstand zu leisten oder sich ihr zu entziehen und sogar den Geheimdiensten der Tyrannen zu entgehen. Zumindest gelingt es ihnen nicht, alle Lebenssphären unter ihre Kontrolle zu bringen.
Anders verhält es sich dagegen mit der sozialen Beschleunigung. [...] Schon dadurch, dass sich mit dem Voranschreiten der Beschleunigung das Raum-Zeit-Regime der Gesellschaft immer wieder verändert, erweist sich die Dynamik als durchdringend und umfassend. Sie übt ihren Druck auf die Subjekte zunächst dadurch aus, dass diese in ständiger Furcht davor leben, auf den (im Zuge wachsender Ausdifferenzierung immer zahlreicher werdenden) "rutschenden Abhängen" des Lebens nicht mehr in der Lage zu sein, auf dem Laufenden zu bleiben und damit ihren Platz zu halten [...].
Der entscheidende Punkt [...] ist indessen die Tatsache, dass dieses Zwangsregime in aller Regel nicht als sozial konstruiert wahrgenommen wird: Das Beschleunigungsdiktat tritt uns nicht in Form normativer Ansprüche oder Regeln entgegen (die im Prinzip stets sowohl bestritten als auch bekämpft sowie überschritten werden können) und spielt in politischen Debatten keinerlei Rolle."
HARTMUT ROSA: Beschleunigung und Entfremdung. 1. Aufl. Berlin : Suhrkamp, 2013, 89-91

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