Samstag, August 12, 2006

"Wenn die Eliminateure aller Länder ihre Messer zücken, trifft es im Prinzip alle, deren Denken nicht um die Zentralachse der Auslöschung anderer organisiert ist. Denn um diese Achse dreht es sich: sichere ich mein eigenes Über(Leben) durch die Auslöschung anderer, oder suche ich ohne diese Tötungs-Selbstverständlichkeit auszukommen - und damit nach anderen, zivilisierteren Wegen.
Insofern ist die Verfolgung der Juden, wo immer sie geschehen ist in den letzten zwei Jahrtausenden und wo immer sie weiter geschieht, nicht der Sonderfall des unerwartet Hereinbrechenden der ansonsten zivilisierten Kulturen, sondern die stärkste Zuspitzung des Normalfalls jeder verfolgenden Kultur.
Wenn Selektion und Eliminierung der Normalfall einer Kultur wie der unseren sind, dann ist Auschwitz ein Teil dieses Normalfalls unter besonderen Bedingungen; also der (berechenbare) Ausnahmezustand dieser Kultur, nicht etwa das ihr äussere Fremde.
[...] Von der psychopolitischen Konstruktion des Antisemitismus her wäre 'Auschwitz' auch in Frankreich, in Polen, in Südafrika, in den USA, in Grossbritannien und anderswo möglich gewesen. Es war nicht der im Prinzip mildere, also ein 'nicht-eliminatorischer' Antisemitismus der anderen Länder, der ein Auschwitz nicht zustande kommen liess, sondern die grössere Stärke der demokratischen, rationalen, toleranten Kräfte dieser Gesellschaften, die den entfalteten diktatorischen Antisemitismus nicht zur Macht kommen liessen. Wo er zur Macht kommen will, will er Auschwitz veranstalten; in jedem Land der Erde, oder, wie in Russland, eine andere Sorte Lager.
[...] Der Antisemitismus zielt nie nur auf 'den Juden'. Sein Feind ist der ruhige, wahrnehmende Blick auf die Verhältnisse; der Blick, der erst hinschaut, mit Aufmerksamkeit und Teilnahme, ehe er etwas zu kennen vorgibt und sich an Lösungsvorschläge macht. [...] Was sich unter dem Verhaltenskomplex 'Antisemitismus' überall auf der Welt sammelt, ist der zerstörte und zerstörende Menschenkörper, der jedes soziale und auch private Problem mit Dreinschlagen, Zermatschen und Eliminieren zu lösen versucht.
Dieser Typus ist im Sozialkörper einer jeden Gesellschaft (selbstverständlich auch der israelischen) in einem bestimmten Masse vorhanden [...]."

KLAUS THEWELEIT: friendly fire. Frankfurt a.M. und Basel: Stroemfeld/Roter Stern 2005, 343-344.

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