Sonntag, September 04, 2005

"Dass der Mensch hier oder dort geboren wird, ist eine Sache des Zufalls. Damit verliert der Begriff 'Heimat' oder 'Vaterland' seinen besonderen Stellenwert: Alles lässt sich auf geographische Koordinaten, auf profane Punkte auf der Landkarte unseres Schicksals zurückführen. Und wenn ich mich heute, nach vielen Jahren, auf den Weg in mein Geburtsland mache, habe ich das Gefühl, als wäre ich nach Alaska aufgebrochen. So gehe ich in die unbekannte Gegend meiner Vergangenheit, ohne eigentlich zu wissen, warum. Mit völlig neutralen Emotionen: Ich habe nicht die Absicht zu beweisen, dass das eine aussergewöhnliche Gegend oder eine ganz schlechte sei. Ich stehe nicht im Dienst irgendeiner Mission, weder einer politischen noch einer ideologischen. Vielleicht nur, damit ich meiner Frau das Haus zeige, in dem ich zur Welt gekommen bin, und damit sie mich vor ihr Geburtshaus führt. So brechen wir in das Alaska unseres früheren Lebens auf, befreit von allem, reine Touristen auf dem Weg unseres Seins, Pilger in das Land dessen, was wir schon erlebt haben, vor langer Zeit. Denn auch das, was gewesen ist, sieht, wenn man es von neuem besucht, anders aus: Es gibt keine Geschichte, die unverändert bleibt, vieles entschwindet ihr, etwas anderes wächst auf diesem geräumten Boden."

BORA COSIC: Drinnen vor der Tür. In: NZZ, 03./04.09.2005, 65.

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