Samstag, Mai 21, 2005


Bild: Hugo Keller
Solothurn, Schweiz, 29.05.2003

"Das Dorf, wo ich herkomme, heisst Amrain. Amrain liegt am Jurasüdfuss, unterhalb des Weilers Walden. Östlich von Amrain verläuft die bernisch/solothurnische Kantons-, Mundart- und Konfessionsgrenze. Benachbarte Grenzorte sind: Kestenholz, Oensingen, Klus. Kestenholz hatte, wenn die Kirschbäume blühten, eine halbe Stunde länger Sonne als wir. Oensingen hatte einfach seine Leute. Diese Leute hatten wiederum ihren Himmel. Und dieser ihr Himmel war blau. Klus, der dritte Grenzort, ist von Amrain aus nicht zu sehen. Bei Nordwind aber und Frost waren die Sirenen des Eisenwerks zu hören, wonach dann Gestalten in schwarzen Pelerinen unsere Wege belebten (Giesser und Gussputzer eben), die einzeln, zu zweit, in Gruppen oder Prozessionen ihren Behausungen zustrebten, ohne zu reden.
Einer von ihnen machte winters beim Theaterspielen mit, im gemischten Chor, glaube ich. Er war etwas dicklich, hatte einen leichten Sprachfehler und verfügte über ein wundervolles Pathos.
Diese zwei Männer unter einer Pelerine konnte ich nie auseinanderhalten, ich, der ich als Kind an Frühlingsabenden nach Kestenholz hinüberstaunte, im Sommer über Oensingen einen blöuen Himmel und als Erwachsener beim Kunstmuseum Solothurn den bronzenen Josef Joachim vorfand, den Volksschriftsteller aus Kestenholz, der unentwegt Richtung Kestenholz starrt und den ich in Verbindung brachte mit der längeren Sonneneinstrahlung auf Kestenholz."

GERHARD MEIER: Ob die Granatbäume blühen. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2005, 35-36.


0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite